Julia Holters neues Album: Setz dich neben mich ins Traumzimmer
Die amerikanische Musikerin Julia Holter und ihr feines Kunstpop-Album „Have You In My Wilderness“, das bisher ihr zugänglichstes ist.
Keith Richards erregte neulich Aufsehen mit der Aussage, dass er „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles für echten Müll halte. Diese Meinung ist durchaus nachvollziehbar. Denn mit „Sgt. Pepper“, vielleicht auch schon ein Jahr zuvor mit „Pet Sounds“ von den Beach Boys, zog das Kunsthandwerk in die Popmusik ein. Nach der Lesart des Rolling-Stones-Gitarristen war es damit vorbei mit „Awopbopaloobop Abopbamboom“ und dem befreienden animalischen Primitivismus des Rock ’n’ Roll.
Man kann davon ausgehen, dass Keith Richards, würde er Julia Holters am Freitag erscheinende Platte „Have You In My Wilderness“ hören, zu einem ähnlichen Urteil käme wie zu „Sgt. Pepper“. Das Album ist ziemlich versponnen, die Arrangements kunstvoll und zum Blues – ohne dessen Einfluss Popmusik für Keith Richards nur Quark sein kann – wird größtmöglicher Abstand gehalten.
„Have You In My Wilderness“ knüpft nicht nur vage an die „Sgt. Pepper“-Tradition an, sondern erinnert deutlich an bekannte Kunstpopvertreter der letzten Jahrzehnte. Julia Holters Experimente mit dem Vocoder und der oft gespenstisch klingende Hall unter ihrer Stimme lassen an Laurie Andersons bizarren Hit „O Superman“ denken, eine Hymne des artifiziellen Pops. Und wie sie ihre Songs schichtet, Strophe-Refrain-Schemata ignoriert und kleine Kammermusikstücke mit Streichern, Kontrabass und Piano voller überraschender Drehungen und Wendungen zimmert, verdankt einiges der britischen Achtziger-Jahre-Band Talk Talk. Diese hatte gegen Ende ihrer Karriere das Korsett des Popsongformats mit noch beeindruckenderer Vehemenz als einst die Beatles abgelegt. Auch Robert Wyatt, den großen englischen Barden des idiosynkratischen Pop verehrt Julia Holter.
Es ist die vierte Platte der 30-Jährigen
Beim Treffen im Berliner Büro ihrer Plattenfirma erzählt sie, dass sie erst vor Kurzem eine Biografie des Sängers mit der honigsüßen Stimme gelesen habe. „Ich fühle eine Verbindung zu Robert Wyatt“ betont sie. Dabei ist „Have You In My Wilderness“ das bislang zugänglichste und konzeptuell am wenigsten verschrobene Album Julia Holters. Es gehe darauf stärker als je zuvor um Songs und nicht mehr so sehr um das Erzeugen einer bestimmten Atmosphäre, sagt sie.
Drei Platten hat die 30-Jährige, die in Los Angeles Komposition studiert hat und dort immer noch lebt, bereits vor ihrem aktuellen Werk veröffentlicht. Diese Alben werden von ihr als zusammenhängende Trilogie verstanden. Die ersten beiden Platten waren Sammlungen von Schlafzimmer-Aufnahmen, auf denen Holters seltsam verfremdete Stimme zu Piano- und Synthesizerklängen zu hören war.
Erst mit ihrem letzten Album, „Loud City Songs“, schlug sie den Weg ein, den sie auf ihrer neuen Platte schlüssig weiterverfolgt. Der weitgehend spartanische Sound ihres Frühwerks ist hier bereits vielschichtigen, fast orchestralen Arrangements gewichen. Textlich und intellektuell war die Fallhöhe auf allen drei Platten ziemlich hoch. Für Keith Richards geht es in einem guten Song vielleicht darum, dass einem die Frau wegrennt oder das Whiskyglas leider schon wieder leer ist, Holter hat sich auf ihren Konzeptplatten mit den Gedanken von Euripides beschäftigt und Virginia Woolf zitiert.
Julia Holter nutzte Techniken wie das Automatische Schreiben
„Have You In My Wilderness“ hat ebenfalls literarische Bezüge, die allerdings weniger stark sind als früher. Hatte Holter einst Gigi, der gleichnamigen Hauptfigur eines Romans der französischen Autorin Colette, einen Song gewidmet, beschäftigt sie sich auf „Lucette Stranded On The Island“ nun mit einer Nebenfigur aus einem weniger bekannten Roman derselben Schriftstellerin. Statt großen Erzählungen gibt es nun Beiläufigeres in Julia Holters Texten, Unzusammenhängendes, im Stream-of-Consciousness-Verfahren aneinandergefügt. „Ich bin eine Geschichtenerzählerin“, sagt die Musikerin, ergänzt aber gleich, wie beeinflusst sie beim Verfassen ihrer Songs von der Écriture automatique war, vom Automatischen Schreiben, einem literarischen Verfahren, das spontane Gedankenströme nutzt. Zudem blickt sie in ihren Songs aus verschiedenen Erzählperspektiven auf Themen wie Liebe und Schuld.
Nein, so richtig einfach will es einem Julia Holter immer noch nicht machen. Ihre neuen Lieder mögen noch so intim und persönlich sein – sie selbst sagt: „Beim Aufnehmen der letzten Platte habe ich daran gedacht, vor einem größeren Publikum zu spielen. Das neue Album dagegen richtet sich eher an eine einzige weitere Person im Raum“ – einen echten Blick in ihre Gefühlswelt, so wie einem das jemand wie der ehrliche Keith Richards in seinen ehrlichen Songs verspricht, gewährt sie einem immer noch nicht. „Auch in einem vermeintlichen Liebeslied von mir geht es nicht unbedingt um mein Leben“, sagt sie.
Und trotzdem geht es um sie, auf der Platte, um Julia Holter, um eine Frau, die in der ganzen Ernsthaftigkeit, die sie ausstrahlt, eher ein New-York-Typ zu sein scheint, sich aber in Los Angeles total wohlfühle, wie sie sagt. Sie kommt sich in der riesigen Stadt so isoliert vor, was sie aber für einen positiven Zustand hält. Versteckte Holter sich auf den Vorgängerwerken noch hinter den literarischen Vorlagen, drehen sich die Songs nun um das, was in ihrem Kopf herumspukt, auch wenn dies wiederum Fremdeinflüsse wie Anekdoten aus dem Leben Robert Wyatts sind. Aber Kunst speist sich nun mal fast nie allein aus dem eigenem Bewusstsein – es sei denn, es sind bestimmte Drogen mit im Spiel. Und das scheint bei Julia Holter, die wie eine Frau wirkt, die zur Stimmungsaufhellung maximal grünen Tee zu sich nimmt, nicht der Fall zu sein. Immerhin das hat sie mit Keith Richards gemeinsam. Der ist ja jetzt auch weitgehend clean, wie man hört.
„Have You In My Wilderness“ erscheint am 25. September bei Domino
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