Eröffnung der Galerie Zilberman in Berlin: Sehen wie mit weggeschnittenen Augenlidern
Kunstwerke als Zeugen des Krieges: Mit einer spektakulären Schau eröffnet die Galerie Zilberman aus Istanbul ihre Berliner Räume.
Diese Ausstellung irritiert, verstört, berührt, setzt Unterschwelliges frei. Ihr Titel „The Red Gaze“ bezieht sich auf den Blick, das Auge und seine Zeugenschaft. Möchte man ein Objekt als ihr Herzstück benennen, so erkennt man, dass fast jeder Gegenstand ein solches darstellt, weil die Mitte, welche das Herz bezeichnet, wandert. Sie wandert durch vier Räume der kürzlich eröffneten Galerie Zilberman, die in Istanbul ihren Stammsitz hat. Nach einer ersten Präsentation ihrer überwiegend türkischen Künstler im Sommer ist diese Ausstellung der eigentliche Auftakt. Ein starkes Zeichen, eindringlich, leise.
Eines der „Herzstücke“ zeigt eine aus zwei Blechtrichtern geformte Brille von Memed Erdener alias a.k.a Extramücadele (5000 Euro), die spitzen Enden nach innen zu den Augen gekehrt. Eine Brille, die das Gesehene blutig filtert: „Red Gaze" zieht sich als „roter Faden“, ja, auch als Blutspur durch die Räume, erinnert mit einem der letzten Selbstporträts Schönbergs an das frühere Selbstbildnis „Der rote Blick“ (1910). Jetzt aber, 1944, ist es, wie von Kinderhand getuscht, der Schreckensblick des berühmten Komponisten im Exil, der gleichsam lidlose Blick zurück auf die Katastrophe, der er entfloh. Das Porträt ist eine Leihgabe des Schönberg-Centers in Wien. Mit sowohl verkäuflichen wie weiteren unverkäuflichen Werken, mit Arbeiten eigener und fremder, insbesondere nahöstlicher Künstler überschreitet die Schau den üblichen kommerziellen Rahmen. Und nicht nur ihn.
Grenzen aufbrechen
Einmal im Jahr hat sich Moiz Zilberman zur Aufgabe gemacht, dieses Korsett zu sprengen und einem auswärtigen Kurator freie Hand zu lassen. In diesem Fall der Judaistin und Kuratorin Almut S. Bruckstein Coruh, die 2008 die Taswir-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau initiierte und auch diesmal ihr an Aby Warburg und die talmudische Hermeneutik angelehntes Konzept fortschreibt: die Grenzen nicht nur von zeitlichen und räumlichen Zugehörigkeiten aufzubrechen, sondern auch die Genregrenzen selbst. Bild, Skulptur, Schrift, Video und Audio werden gleichwertig zueinander in Bezug, Kontrast und Dialog gesetzt.
Mit Schönberg gleitet der Blick über die Trichterbrille hinweg zu Texten wie einem von Celan übersetzten Gedicht von Picasso, das, wie auch andere Schriften und Zitate, über die Wände läuft; wandert weiter zu dem Video „Wonderland“ (7200 Euro), das der kurdische Künstler Erkan Özgen von dem taubstummen syrischen Knaben Mohammed in einem türkischen Auffanglager machte. Mit eigenen Augen hatte das Kind ansehen müssen, wie seine Cousins enthauptet und Teile seiner Familie massakriert wurden.
Echoraum der Assoziationen
In einem Psychodrama erzählt das Kind in heftigen Gesten und Gebärden das Trauma nach, festgehalten vom Künstler im Einverständnis mit dem Kind. Ein dreifach gebrochener Blick entsteht: die pantomimische Darstellung des Kindes; das Zeugnis des Künstlers, der seine Mitteilung aufnimmt und an den Betrachter als Dritten weitergibt. Ein Sehen wie mit weggeschnittenen Augenlidern hat Kleist dies einmal genannt. Doch nicht nur moralisch-politisch wird der Betrachter angesprochen, auch das Verhältnis zur Kunst, ihr Begriff selbst gerät in Bewegung. Rührt an ihre Ursprünge im Kult, wenn der in Paris lebende türkisch-armenische Künstler Sarkis christlich-orthodoxem Ritus gemäß seine „Ikonen“ (34 000- 52 000 Euro) auf eigens angefertigten Pulten zeigt. Die Ausstellung wird so zu einem Echoraum der Bezüge, der Assoziationen, Kommentare, Verweise, aber auch der Subströme, in denen sich die Formen, Körper, Gesten und Motive aus scheinbar fremden Zusammenhängen wechselseitig erhellen.
Die Idee ist keineswegs neu, entfaltet aber derzeit in Ausstellungen wie von Alexander Ochs im Berliner Dom oder in der jüngst eröffneten Schau „Uncertain States“ in der Akademie der Künste neue Wirkung und Sinn. Zugleich wirft „The Red Gaze“ ein Licht auf die äußerst lebendige, sich – sei’s explizit, sei’s implizit – politisch verstehende Kunstszene in der Türkei, wo Erdogans Zensur zwar die großen Institutionen und Museen erreicht, nicht aber (bislang) die unabsehbare Vielfalt urbaner Kreativität. Heimisch-europäische Sichtweisen treten dazu in Dialog oder zeigen wie die Berliner Künstlerin Rebecca Raue die eigene Verarbeitung fremden, vergangenen oder außereuropäischen Erbes. Auf einer ägyptisch-syrischen Darstellung aus dem 18. Jahrhundert, die die Begrüßung eines Asketen und seines Gastes zeigt, hat sie das überschwängliche Ausbreiten der Arme in ein ironisches Spiel mit der Sonne, dem Sonnenball verwandelt, dem eine Katze von oben zu folgen scheint (12 000 Euro). Einer der wenigen humorvollen Momente dieser den „Leidschatz“ thematisierenden Ausstellung, den Abi Warburg einst als „humanen Besitz der Menschheit“ in seinem unabschließbaren Bilderatlas bergen wollte.
Der Adam, der Mensch, der Mann von Gezi
Er gipfelt hier in einer Skulptur, die ebenfalls als private Leihgabe im letzten Raum ihren Ort findet: der Torso einer Cristo-vivo-Figur, eine flämische Arbeit in Elfenbein aus dem 17. Jahrhundert. Der Corpus verstümmelt, wie ein Kriegsversehrter seiner Arme und Teilen seiner Gliedmaßen beraubt – und seines Kreuzes. Allumfassendes Zeichen eines menschlichen Martyriums, das, kreuzlos, keine Religions- und Völkergrenzen kennt, keine Opferhierarchien, sondern vielmehr den Adam, den Menschen aufruft, den Mann von Gezi, der 2013 stundenlang still und aufrecht stehend den auffahrenden Panzern und Geschützen trotzte: „I am ...“, die wenigen Worte des Künstlers Erdem Gündüz, auch sie werden hier zum Zeugen.
Blicke können versteinern, vernichten, ausbeuten und erniedrigen. Aber sie können im Anderen und nicht zuletzt auch in der Kunst ihren Blick aufschlagen. „Love, love, love“ lässt Rebecca Raue als Worte wie einen kleinen Vogelschwarm über ihr heiteres Begrüßungsbild fliegen.
Galerie Zilberman, Goethestr. 82; bis 23.12., Di–sa 11–19 Uhr
Marleen Stoessel