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Berliner Freiluftausstellung an neun Standorten: Welch' eine Werbung!

Junge Künstler präsentieren ihre Werke zwei Wochen lang an den großen Plakatwänden der Stadt. Das soll irritieren und ein Bewusstsein für die Flächen schaffen. Wir haben die Künstlerin Rebecca Raue getroffen, während ihre Bilder an der Stralauer Straße in Mitte aufgehängt wurden.

Rebecca Raue wird langsam ungeduldig. Sie steht schon seit einer halben Stunde an der Kreuzung Stralauer Straße, Ecke Alexanderstraße in Mitte. Die S-Bahn fährt quietschend Richtung Jannowitzbrücke, an der gerade auf grün gesprungenen Ampel braust der Autoverkehr wieder los. „Und wo bitte geht’s zur Eastside Gallery?“, wollen drei Spanier auf Rädern wissen. Rebecca Raue weist den Touristen auf Englisch die Richtung. Reger Betrieb – das ist genau das, was Rebecca Raue will: Die Künstlerin nimmt an der Aktion „Kunst braucht Fläche“ teil: Zwei Wochen lang dürfen 23 Künstler auf insgesamt neun Werbeflächen ihre Werke ausstellen; initiiert ist das Projekt von der Firma AV Tour, die auf Kulturaußenwerbung spezialisiert ist. Das Problem ist nur: Die Kunst kommt nicht. Die drei Fotozeichnungen von Rebecca Raue, die für das Projekt auf Plakatgröße gebracht wurden, stecken am Donnerstagvormittag, zwei Tage vor Ausstellungsbeginn, irgendwo im Berliner Verkehr fest.

"Kunst braucht Fläche" - und das mitten in der Berliner City

Über das Projekt reden kann man ja trotzdem schon mal. Darauf aufmerksam geworden ist die 36-Jährige bereits im vergangenen Jahr, als „Kunst braucht Fläche“ erstmalig stattfand: In der Torstraße in Mitte, quasi bei ihr vor der Haustür, hing ein riesiges Plakat, nur war es diesmal eben keine Werbung sondern Kunst. Seitdem wollte sie selbst mitmachen. „Ich finde es toll, im Alltag an Nicht-Alltägliches erinnert zu werden“, sagt sie. Klar sei es auch schön, sich vorzunehmen, ins Museum oder in eine Galerie zu gehen. „Aber Momente der Irritation, Aha-Momente, die ich erzeugen möchte, die passieren ja meist, wo man sie nicht erwartet.“ Wie hier an der Stralauer Straße, wo gerade die Mitarbeiter von AV Tour damit beschäftigt sind, alte Plakate mit Spachteln von der langen, zwei Meter hohen Wand zu kratzen, um Platz zu machen für die Kunst. Insgesamt sechs Künstler werden hier ihre Werke ausstellen. Nur die Coca-Cola-Werbung bleibt hängen. Problematisch findet Rebecca Raue, die an der Universität der Künste bei Georg Baselitz und Rebecca Horn studiert hat, es nicht, ihre Kunst in so direkten Kontakt mit dem Kommerz zu bringen. „Geld gehört nunmal überall dazu, auch auf dem Kunstmarkt.“ Es sei doch toll, dass sich Betriebe für andere Bereiche öffneten, sei es nun ein kulturelles Projekt oder eins mit Kindern. „Solche Synergien sind doch immer spannend.“

Werbeflächen in Kreuzberg, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte

Und beide Seite profitieren. „Die Künstler bekommen einen Ort, um ihre Arbeiten zu präsentieren und wir die Gelegenheit, auf die Notwendigkeit von Werbeflächen hinzuweisen“, sagt Alexander Veitengruber von AV Tour. Viele beschwerten sich über Werbeflächen, dabei solle sich die Kritik nicht gegen die Flächen, sondern gegen die Inhalte richten. "Es ist ja etwas anderes, ob ich Mediamarkt oder die Volksbühne bewerbe!" Außerdem werde es immer schwieriger, in Berlin Werbeflächen zu finden, da die Brachen verschwinden. „Berlin ist voll mit Kunst und Kultur, es gibt so viele Theater, Ausstellungen und Konzerte!“ Um all das zu bewerben, fehle der Platz. Für „Kunst braucht Fläche“ stellt Alexander Veitengruber zehn Prozent seiner Werbeflächen zur Verfügung, auch einige sehr prominente wie die Fläche auf der Kastanienallee in der Nähe der U-Bahn Station Eberswalder Straße und eine in der Mühlenstraße bei der O2-World. An der Fassade eines Wohn- und Geschäftshauses am Oranienplatz mitten in Kreuzberg können sich gleich elf Künstler austoben.

Im Vorbeigehen: Passanten machen auch mit

Ausgesucht wurden die 23 Teilnehmer aus 120 Bewerbern von Katja Sergeeva, Begründerin, Organisatorin und Kuratorin der Freiluftausstellung. „Bestimmte Kriterien gab es nicht, ich wollte keine elitäre Ausstellung, sondern, dass für alle Berliner etwas dabei ist“, sagt die 33-jährige Kulturwissenschaftlerin mit russischen Wurzeln. Viele junge, überwiegend unbekannte Künstler hat sie ausgewählt. Aber alle haben eine künstlerische Ausbildung und Ausstellungserfahrung, das war Sergeeva wichtig. Den Teilnehmern sind keine Grenzen gesetzt: Fotografien, Zeichnungen, Ölmalereien, Collagen, Grafiken werden zwei Wochen lang zu sehen sein, und bei der heutigen Eröffnung kann man im Mauerpark einigen Künstlern bei Live-Performances zugucken – und selbst mitmachen: Für die Gestaltung einer Litfasssäule fordert das Künstlerduo Katalin Pöge und Michael Zander die Anwesenden dazu auf, mit Stiften, Pinseln und Farben selbst künstlerisch aktiv zu werden. Die Ecke Bernauer Straße, Schwedter Straße gegenüber dem Mauerpark-Eingang wird gleichzeitig von drei Künstlern gestaltet; Dominik Fraßmann etwa porträtiert Passanten, um sie auf der Fläche zu verewigen.

Endlich kommen Rebecca Raues Bilder

Am Donnerstagmittag tut sich an der Stralauer Straße, Ecke Alexanderstraße dann endlich doch noch was: Die Plakate sind da! „Es tut mir so leid“, sagt Katja Sergeeva, als sie aus dem weißen Kleinbus springt. Die Plakate seien gerade erst gedruckt worden, in der Druckerei habe alles viel länger gedauert, dabei sei sie schon seit sieben Uhr auf den Beinen. Sie übergibt den Stapel gefalzter Bögen den Plakatklebern. Ratzfatz haben sie mit langen Besen und Leim aus großen Eimern die drei Bilder, jedes zwei Meter hoch und etwa drei lang an die Wand geklebt.

Ist das nun Werbung oder Kunst?

Auf allen dreien sind Kinder zu sehen, ein Junge, der zögernd, aber bestimmt seine Hand hebt, die Rücken zweier Mädchen, die in die Ferne blicken. Die Fotografien hat Rebecca Raue mit Strichen und Farbklecksen verfremdet. „Ich hab extra diese Fotozeichnungen ausgesucht, weil das am besten zu der Aktion passt: Ist das nun Werbung oder Kunst? Hat das wer bekritzelt oder muss das so?“ Das sei genau die Irritation, die sie bewirken will. Außerdem sei der Blick von Kindern auf die Welt sowieso immer anders und spannend. Aber dann will Rebecca Raue nicht mehr über ihre Kunst reden, sondern das Resultat auf sich wirken lassen. „Und man sieht die Bilder sogar aus der S-Bahn!“ Rebecca Raue strahlt. Das Warten hat sich gelohnt.
„Kunst braucht Fläche“: 27. Juli bis 4. August, Liveperformances am heutigen Sonnabend ab 15.30 Uhr am Eingang zum Mauerpark an der Bernauer Straße. Infos unter ww.av-tour.de/kunst-braucht-flaeche

Leonie Langer

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