Christian Kracht in Frankfurt: Schutzschild gegen die Erinnerung
Christian Kracht hält die zweite Frankfurter Poetik-Vorlesung an der Goethe-Universität nach seiner Missbrauchsenthüllung
Ein Gedankenspiel: Was käme wohl dabei heraus, wenn Slavoj Žižek, der Interpret beunruhigender Popkultur von Pokémon über Splatterfilme bis Trump, einmal Christian Kracht analysieren würde? Krachts Verleger Helge Malchow schilderte kürzlich in einem Interview, wie ihm die filmtheoretischen Überlegungen Žižeks geholfen hätten, in dem mutwilligen „Spiel mit Fehlern“ seines Autors ein poetologisches Prinzip zu erkennen.
Als einen Anschlag auf die Erwartungen der Leserschaft könnte man dieses Auslegen falscher Fährten begreifen: ein surrealer Windsurfer, den Christian Kracht in einem fiktiven Liebesfilm vor Jane-Austen-Kulisse gerne am Horizont einer satten englischen Landschaft auftauchen sähe; irritierende Beigaben zu hochbedeutsamen Szenen in seinen Romanen „Die Toten“ und „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, in denen ein Suizid beobachtet oder ein Beischlaf vollzogen wird.
Von einer „kognitiven Dissonanz“ spricht Christian Kracht in der mit Spannung erwarteten zweiten Poetik-Vorlesung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt allerdings nicht im Zusammenhang mit dem eigenen ästhetischen Verfahren. Beim ersten Vortrag am vergangenen Dienstag hatte der Autor kein hochartifizielles Spiel um die Gründe und Abgründe seiner Autorschaft inszeniert, sondern erstmals über seine Missbrauchserfahrung als Zwölfjähriger gesprochen. Eine kognitive Dissonanz attestiert der 51-jährige Autor dem Jungen, der durch den Übergriff des Geistlichen Keith Gleed zwar schon einen Begriff vom Missbrauch hatte, aber noch nicht wusste, was Ironie ist.
Krachts Texte widersetzen sich dem eindeutigen Verstehen
Die Verunsicherung, die Krachts mit allen Mitteln der reflektierenden Kunst inszenierte Botschaft auslöste, war immens. Ein Markenzeichen des schillernden Pop-Literaten ist schließlich, dass er seine Texte partout nicht dem Zugriff eines vereindeutigenden Verstehens aussetzen möchte. Im Rahmen der Frankfurter Traditionsveranstaltung gibt es nun keine Volte der zynischen Art. Mit dem fast kleinlauten Eingeständnis, Kunst sei die Heilung für den Missbrauch, reiht Kracht weitere Vignetten aus Kinder- und Jugendtagen unterhaltsam aneinander, die nur angesichts der monumentalen Erwartungen undramatisch wirken können: Ein Selbstmordversuch der Mutter, an dessen Wirklichkeit er offenbar jahrzehntelang ebenso zweifeln sollte wie am Missbrauch des Pastors, ist das abschließende Glied dieser Kette.
Sehr lange liest Christian Kracht, der sich in mehrfacher Hinsicht als Grenzgänger entpuppt, mit vollendeter Intonation englische Gedichte vor, unter anderem von William Butler Yeats und T. S. Eliot. Eigentlich kaum vorstellbar, dass das atemlos lauschende Publikum an diesem fast noch frühlingshaften Abend von Eliot, den Kracht lange „wie ein Schutzschild herumgetragen“ habe, im Hinblick auf den Vortragenden viel mehr verstanden haben könnte als die heilende Vermischung von Erinnerung und Begehren: „April ist he cruellest month, mixing memory with desire“.
Vielleicht könnte man sich die ausstehenden Auftritte Krachts in der Goethe-Universität und im Frankfurter Literaturhaus tatsächlich als eine Intervention des Lacan-Schülers Žižek vorstellen: nicht in Erwartung der chirurgischen Durchtrennung eines Knotens aus Fantasie, Sprache und traumatischer Entblößung, sondern im Sinne der Identifikation eines klugen Künstlers mit dem, was das Leben für ihn lebenswert macht.
Bettina Engels
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