Münchner Kammerspiele: "Wut" von Elfriede Jelinek: Ihr seid Schulden
Shitstorm auf der Bühne: Die Uraufführung von Elfriede Jelineks neuem Stück „Wut“ an den Münchner Kammerspielen.
Der amerikanische Präsident spricht vom „war against terrorism“, dem Krieg gegen den Terrorismus. Die letzte Silbe ist allerdings nicht mehr zu hören. Sie sackt unter einem Pegida-Chor weg: „Wir sind das Volk“. Später berichtet ein Musiker der Eagles of Death Metal, die während der Terroranschläge vom 13. November 2015 im Pariser Bataclan spielten, mit stockender Stimme von den vielen Leichen und seinem Schuldgefühl, überlebt zu haben.
Mit dieser Soundcollage beginnt Nicolas Stemanns Uraufführung des neuen Theatertextes „Wut“ von Elfriede Jelinek in den Münchner Kammerspielen. Richtungsweisend, denn „Wut“ ist tatsächlich ein grandioser Schreibanfall, der auf 114 Seiten das Grundrauschen unserer Zeit verdichtet. Natürlich ohne Rollen- oder Figurenzuordnungen: „Wie das halt immer so ist“, sagt Stemann, der seit fast 15 Jahren (neben Johan Simons und Jossi Wieler) als Jelinek-Uraufführungsregisseur par excellence gilt und selbst auf der Bühne dabei ist.
In „Wut“ kommen IS-Terroristen und Pegidisten, Religionsverfechter wie -verächter, Wutbürger aus der Mitte und von allen erdenklichen Rändern gleichermaßen zu Wort. Ihre rhetorischen Figuren lappen bewusst ineinander; manchmal erschließt sich erst nach mehreren Satzkaskaden, wer eigentlich gerade spricht. Schließlich kann das wütende Subjekt jederzeit switchen, kippen oder in der eigenen Sprechblase ausrutschen.
Von der Wut der IS-Terroristen geht es umstandlos zur Wut des Wohlstandsbürgers West
Stemann verdeutlicht dieses Jelinek’sche Schreibverfahren einmal in einem lakonischen Bild: „Schuld“, pinselt er mit blutroter Farbe auf eine Leinwand. Und auf eine zweite, gegenüber: „Wir sind schuld.“ Dann geht er zur ersten Leinwand zurück. Aus „Schuld“ wird jetzt: „Schulden“. Und schließlich, in einem nächsten Pinselschritt: „Ihr seid Schulden“. Genauso wandert bei Jelinek die Wut der IS-Terroristen auf den Westen zur Wut des Wohlstandsbürgers West auf die griechischen Staatsschuldenkrisler, um sich anschließend im Furor des antiken Griechen-Heroen Herakles fortzuschreiben, der im Wahn seine Familie auslöscht – und schließlich zu kulminieren im Hass der gesammelten Internetforen-Shitstormer auf alles Mögliche und Unmögliche. Die Wut als naturgemäß nicht besonders differenzierter, aber leider umso destruktionswirksamerer Status quo: „Wir setzen uns mit nichts mehr auseinander, wenn wir einmal beisammen sind.“
Nun wäre Jelinek natürlich nicht Jelinek, wenn sie sich zur Expression ihrer Klarsichtigkeiten nicht mit Vorliebe des Kalauers bediente; mit hinterhältigen Widerhaken, versteht sich. Und Stemanns Inszenierung ist hier, einmal mehr, absolut auf Augenhöhe. Es ist so viel los in den vier Stunden, dass der Abend subjektiv schneller zu Ende ist als der eine oder andere Anderthalbstünder anderswo. Und das nicht nur, weil irgendwann die Saaltüren geöffnet werden und man nach Belieben rausgehen und zurückkommen kann. Sondern vor allem, weil Stemann und das tolle Schauspieler-Septett sowie die Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel Bild rasant auf Sinnbild schichten.
Der Text entstand schon vor einem Jahr. Da der Terror weitergeht, muss er auf der Bühne fortgeschrieben werden
Da zielen die Akteure auf Katrin Nottrodts Szenario, das genauso Theater im Theater wie spießiges Kleinbürger-Wohnzimmer sein kann, etwa als Shitstormler mit dreidimensionalen Scheißhaufen auf zweidimensionale Leinwandgesichter, die sich dann in der nächsten Einstellung tatsächlich – der klassische Wirkmechanismus von hate speech eben – die Fäkalien aus dem Gesicht wischen müssen. Annette Paulmann schraubt sich grandios in hochnotkomisch „schäumende“ Wutmonologe hinein, um plötzlich – ein zentrales Stilmittel an diesem Abend – glasklar in die Analyse zu switchen: „Man erkennt in diesem Zustand ja nichts mehr. In der Wut gibt es keinen Zweifel.“ Unterdessen hat einer der Musiker schon Steve Reichs „Piano Phase“ angespielt, die unlängst in Köln zu befremdlichen Kulturwutbürgerprotesten geführt hatte.
Der letzte Ton ist noch nicht verklungen, da steht schon die junge Schauspielerin Julia Riedler bereit, um als Jesus zur „Kammer-Party“ zu laden. Alle trudeln in entsprechender Kostümierung ein, von Buddha über Zeus bis zum Weihnachtsmann und dem Fliegenden Spaghettimonster. Nur „der Mo“ fehlt: Mohammed. Der dann in Gestalt des tollen Franz Rogowski doch noch eintrifft. Und zwar im Goldröckchen. Und natürlich nur, um – Stichwort Bilderverbot – zu versichern, dass er „nicht Mohammed“ sei: „Ich bin eine Jan-Böhmermann-Karikatur.“
Auch mit der Realsatire sind Jelineks und Stemanns gern mal bewusst grobhumoristischen Mittel absolut auf Augenhöhe – und die Bildverbots- und Satirebezüge übrigens grundlegend für den Abend. Denn tatsächlich entstand Jelineks Text bereits vor einem Jahr. Konkreter Schreibanlass waren damals die Terroranschläge vom Januar 2015 auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris. Die Realität hat den Text seither leider überholt, sodass Stemann und sein Team ihn auf der Bühne gewissermaßen auch fortschreiben. Aus dieser Perspektive ist natürlich nicht zu hoffen, dass der Abend in Kürze zum Zwanzigstünder expandieren muss.
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