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Dominik Köninger (links stehend) als Figaro in der Rossini-Inszenierung an der Komischen Oper.
© Monika Rittershaus

"Der Barbier von Sevilla": Schneller geht immer

Fulminant und schlüssig: Kirill Serebrennikovs „Barbier von Sevilla“ an der Komischen Oper Berlin.

Aufgabe: Schreiben Sie einen Text über die neue „Il Barbiere di Siviglia“-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, und erwähnen Sie nicht in jedem zweiten Satz die kleinen Dinger, die in unser aller Hosentaschen stecken. Die wir zücken, sobald wir der Zumutung ausgesetzt sind, zwei Minuten warten zu müssen: an der Supermarktkasse, im U-Bahnhof, im Café.

Wie bitte soll das gehen, wenn die Sänger schon mobiltelefonschwenkend auf die Bühne kommen? Wenn der Graf und Fiorello (Denis Milo) während der Ouvertüre miteinander chatten, was alle auf einer großen Leinwand hinter der Bühne mitlesen können? Immerhin: Der Dirigent scheint sein Telefon in der Garderobe gelassen zu haben. Tiefenentspannt schlendert Antonello Manacorda auf den überbauten ersten zwei Saalreihen nach vorne, plaudert ein bisschen, die Musiker sitzen sichtbar und in Straßenkleidung auf dem Podest. Frack? Rituale sind so analog! Spielen wir lieber die „Barbier“-Ouvertüre.

Gioachino Rossini, den sie auch „Monsieur Crescendo“ genannt haben sollen, obwohl „Monsieur Accelerando“ wohl passender gewesen wäre – er schien zu ahnen, dass die Menschen im 21. Jahrhundert zwar immer mehr gleichzeitig erledigen können, aber trotzdem immer weniger Zeit haben. „Geht’s nicht schneller?“, tippt der Graf in sein Handy. Bitte sehr, schon zieht das Tempo an: Rossinis bekanntester Kniff, so simpel er auch ist, hat gänsehauterregende Wirkung, auch nach 200 Jahren noch.

Mit der Verpflichtung von Regisseur Kirill Serebrennikov beweist Intendant Barrie Kosky einmal mehr seine Qualitäten als Spürhund. Der Russe, der das Gogol Center in Moskau leitet und dort vor allem Sprechtheater, Film und seit Neuestem auch Ballett macht – er ist ganz andere Widerstände gewohnt, vor allem staatlicherseits. Terror und Tragödien: Seine Inszenierungen kreisen oft um die Nachtseite menschlicher Existenz. Auf die Idee, ihm eine Komödie anzutragen, kann nur Kosky kommen. Erhofft hat man sich von ihm einen frischen Blick, eine Ideeninfusion fürs Musiktheater, das in Europa um ein vergleichsweise winziges Repertoire kreist. Und Serebrennikov liefert: nämlich Berlins erste Smartphone-Oper.

Berlins erste Smartphone-Oper

Was mehr ist als ein schillerndes aber nichtssagendes Schlagwort. Die kleinen Apparate haben jede Regung des Alltags so grundstürzend verändert, dass man sich wundert, wie selten diese Revolution bisher künstlerisch aufgegriffen wurde. Die Menschen können Bilder vom eigenen Selbst kreieren, sich völlig anders darstellen, spielerisch neue Identitäten annehmen. Und das hat wiederum sehr viel mit dem „Barbiere“ und überhaupt mit barockem Theater (die Vorlage von Beaumarchais entstand 1775) zu tun. Auch hier ist kaum einer der, der er vorgibt zu sein, alles ist Verstellung, Maskerade, Versteckspiel. Und: alle schreiben sich ständig Briefchen und Nachrichten. Nur logisch also, dass Rosina zunächst in Form ihres Profils bei einem sozialen Netzwerk auftaucht. Und dass Tansel Akzeybek als Graf Almaviva seine Canzone „Se il mio nome“ in einer grandiosen Umarbeitung zum Italo-Schlager mit E-Gitarrenbegleitung singt und sofort als Videomessage an die Geliebte verschickt.

2012 hat Serebrennikov bereits an der Komischen Oper inszeniert, Olga Neuwirths „American Lulu“ – eine Fingerübung im Vergleich zu dem, was er mit seinem Ko-Bühnenbildner Alexey Tregubov jetzt auf die Beine stellt. Weil er ein absolut heutiges Thema aufgreift, ohne sich dabei nur billig an die Gegenwart ranzuschmeißen. Er wolle nur zeigen, wie es ist, sagt er. Ja, mancher Gag ist erwartbar, etwa wenn Figaro am Ende dem manisch tippenden Liebespaar endlich die mobilen Endgeräte aus den Händen reißt. Wichtig ist aber, dass das Konzept handwerklich sehr gut gearbeitet ist - und dass es aufgeht, vielleicht sogar zu sehr. Allerdings: Wozu die kryptische Chorprozession im ersten Finale? Und warum wird Figaro gleich dreifach gedoubelt? Es gibt Widerstände, verstörende Momente in dieser Inszenierung, die sich gegen gefälliges Verstehen sperren. Und wenn die Botschaften auf der Leinwand zu tanzen anfangen und dabei jeden Sinn hinter sich lassen, entwickeln sie auch ganz eigene ästhetische Qualitäten.

Antonello Manacorda dirigiert zügig und aufmerksam

Der Erfolg des Abends ruht aber auf vielen Schultern. Allen voran Antonello Manacorda, der im Moment noch die Kammerakademie Potsdam leitet, der aber mit seinem zügigen, extrem aufmerksamen, athletischen Dirigat (nach der Pause dann sogar im Frack) mehr als eine Visitenkarte für die zur Zeit vakante Stelle des Generalmusikdirektors der Komischen Oper abgibt. Und da ist natürlich das fantastische Ensemble, das alle Zumutungen der Regie begeistert mitmacht. Tansel Akzeybek: ein Graf mit juvenilem Tenor, der sich – auch dies durchaus nachvollziehbar – nicht als Soldat verkleidet, sondern als salafistischer Prediger das „Fremde“ in Bartolos Haus bringt und später, wenn er den Schüler von Musiklehrer Basilio (Tareq Nazmi) mimt, als Verschnitt aus Harald Glööckler und Conchita Wurst über die Bühne stöckelt. Nicole Chevalier, seit je eine begnadete Komikerin, beweist erneut, dass auch in der Oper Gesang und Schauspiel durchaus kongenial in einer Figur verschmelzen können; ihre Rosina hat viel von der Schlange übernommen, von der sie selbst singt, dass sie eine sei. Die dauerhustend im Fat-Suit durch die Szene watschelnde Haushälterin Berta (Julia Giebel) hat mehr als eine Schraube locker. Und Dominik Königer, ein Gothic-Figaro mit Hipsterbart und Neukölln-Dutt, bahnt sich für seine legendäre Auftrittsarie „Largo al factotum“ („Macht Platz dem Faktotum“) ganz wörtlich den Weg durch die Ränge, steigt über Zuschauer, gut so: Oper muss berühren, angreifen.

Philipp Meierhöfers Bartolo ist ein erstaunlicher seriöser, alternder Mann

Den berührendsten Trick aber hat sich Serebrennikov für Philipp Meierhöfer aufgehoben. Dessen Bartolo ist nämlich überhaupt nicht die überdrehte Parodie mit Turmperücke, als die er sonst dargestellt wird. Sondern ein erstaunlich seriöser, alternder Mann mit grauer Strickjacke zu grauen Haaren, der sich an Möbeln festhält: Antiquitäten, Gemälde, Stuhlbeine, Lüster – und verblüffenderweise ein Flachbildschirm. Die Flüchtlingskrise flimmert in den Saal, Serebrennikov lässt dem Publikum keine ruhige Minute, die Krisen der Welt drängen mit Macht ins Theater, und hätte das Trump-Clinton-Fernsehduell nicht erst einige Stunden nach dieser Premiere begonnen, hätte er auch das noch live übertragen.

Sein Bartolo aber ist eine geniale Kreation. Was in der Karikatur untergehen würde – dass den Alten die Lust (oder ist es wahre Liebe?) übermannt –, macht hier außerordentlich betroffen. Und die unglaublich unzeitgemäß eingerichtete Wohnung symbolisiert nichts anderes als einen realen Ort. Einen Ort, den seine digital viel fitteren Gegenspieler schon lange nicht mehr haben und auch nicht brauchen. Dass die Möbel Stück für Stück geklaut werden, dass Bartolos Welt zusammenbricht, ist nicht das letzte schlüssige Detail dieser Inszenierung.

Wieder 13., 16., 19., 28. Oktober

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