Kunst der Aborigines: Schleifen der Erinnerung
Verdrängt, unterschätzt: Der Me Collectors Room zeigt traditionelle und moderne Kunst der indigenen Australier.
Wie ein Flickenteppich aus sandfarbenen und rötlich braunen Farbflächen wirkt der zusammengerollte Schlangenkörper. Die Riesenschlange auf dem Bild „Ngalyod“, das Peter Marralwanga um 1980 malte, hat eine Frau verschlungen. Eigentlich gilt die Regenbogenschlange in der Mythologie der australischen Ureinwohner als freundlicher Gott: Aber er bestraft, wer die Gesetze missachtet.
Solch eine Ausstellung gab es in Berlin noch nicht
In einer Ausstellung der Berliner Privatsammlung Me Collectors Room sind Werke zu sehen, die ausschließlich von Aborigines und Torres-Strait-Insulanern gefertigt wurden. Ihre Entstehungszeit liegt zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart. Während viele jüngere Werke die Sprache der (globalisierten) Gegenwartskunst sprechen, sind die traditionelleren Arbeiten fremd-faszinierend und hermetisch zugleich. Eine Beschilderung wäre hilfreich gewesen, um ein Werk wie „Yanjilypiri Jukurrpa“ (1985) angemessen zu lesen. Wie so vieles in der Schau „Indigenous Australia“ bezieht sich die Gemeinschaftsarbeit aus dem Norden des Kontinents auf eine Legende. Eine Feuerzeremonie, die aufsteigende Glut verbindet die Erde und die Sternenbilder des Himmels. Anders als in der westlichen Tradition haben die indigenen Künstler hier keine Horizontlinie gezogen. Der Himmel hüllt die Erde ein, beide Sphären sind ineinander verflochten.
Ohne Frage ist die mit rund hundert Exponaten der National Gallery of Australia in Canberra bestückte Schau überaus sehenswert. Aber häufig fehlen Kommentare zu den Bildern, die sich mit dem Land, der Lebensweise der Völker, ihrer Mythologie und ihren Riten beschäftigen. Eine rein formale Betrachtung, zu der man in Berlin fast gezwungen ist, geht an den Inhalten vorbei. So ist der Australier Rover Thomas (Joolama) mit einem zeichenhaften Quadrat von 1991 vertreten, in dem ein schwarzer Keil eine ockerbraune Formation zerreißt. Immerhin verrät hier der Titel „Cyclone Tracy“, dass sich der Maler auf das konkrete Ereignis eines Wirbelsturms bezieht, der im Dezember 1974 Darwin verwüstete. Als der 1998 verstorbene Thomas in einem Museum auf Bilder von Mark Rothko stieß, soll er übrigens ausgerufen haben: „Wer ist der Typ, der so malt wie ich?“ Eine Anekdote, die auch ein Licht auf die Ungerechtigkeiten der Kunstwelt wirft – und auf die Arroganz des Westens überhaupt. Dieses Jahr stellte der erste australische Künstler indigener Herkunft auf einer Documenta aus: der 1961 in Cloncurry geborene Gordon Hookey.
Noch immer wird indigene Kultur an den Rand gedrängt
In Europa hielt man die Aborigines lange für ein Volk aus der Steinzeit. Sogar Sigmund Freud schmähte sie als kulturlose Kannibalen. Die erste britische Ausstellung, die die Kultur der indigenen Völker Australiens würdigte, fand 2015 im British Museum statt – wo man, bittere Ironie, schon immer die Artefakte eines Volkes hortet, das die Briten während der Kolonisierung Australiens brutal dezimierten. Besonders radikal gingen die Invasoren auf der Insel Tasmanien vor, deren Bewohner fast alle einem Genozid zum Opfer fielen. Und auch im 20. Jahrhundert wurden Aborigines zwangsumgesiedelt und ghettoisiert. Noch heute wird um Land gestritten, sterben die indigenen Australier zehn Jahre früher als die weißen, ist ihre Kultur marginalisiert. Vom Widerstand zeugt ein Werk wie „Aboriginal Embassy“, das Robert Campbell junior 1986 malte. 1972 wurde auf Initiative von vier Demonstranten eine Zeltstadt vor dem australischen Parlament aufgebaut. Die Aborigines traten als Nation innerhalb der Nation auf, entwarfen eine Flagge, formulierten Landrechte und setzten schließlich einige Verbesserungen durch. Campbell stellt den Protest als Bildsequenz dar, die auch die Verhaftung der Demonstranten einschließt. Die Bildoberfläche ist mit Zeichen übersät, die Gravuren alter Schilde und Bumerangs ähneln. Die roten „Luftröhren“, mit denen Campbell seine Figuren ausstattet, sind leicht mit Krawatten zu verwechseln. Doch es handelt sich um ein für den Maler typisches Zeichen, das den Geist symbolisiert, der allen lebenden Wesen innewohnt – übrigens auch den Polizeikräften, die gegen die Protestler vorgehen.
Jüngere Künstler orientieren sich international
Im Verlauf der indigenen Kunstgeschichte wandeln sich die Farben. Die Erdtöne schwinden, Künstler wie Campbell arbeiten mit industriellen Pigmenten. Im letzten, jüngsten Segment der Ausstellung finden sich Fotoserien, Videoarbeiten und Installationen – Werke, die mit ihrer universellen Sprache Anschluss an den internationalen Betrieb suchen. Die Themen bleiben der indigenen Sache verpflichtet, wie etwa Lin Onus’ Installation „Dingoes“ (1989) in denen eine Reihe aus Holz geschnitzter australischer Wildhunde in Fallen oder Drahtzäunen feststecken – was sich auf die Lage der Ureinwohner übertragen lässt.
Faszinierend sind die großformatig ausgesponnenen Liniengeflechte der Malerin Emily Kame Kngwarreye, der bislang erfolgreichsten Aborigine auf dem internationalen Kunstmarkt. Es sind flirrende Wüstensinfonien in Karmesinrot, Rosa und Gelb. Kuratorin Franchesca Cubillo empfindet es als seltsame Idee, „Kngwarreye als Malerin der Moderne hinzustellen, ihren Rang also mit einer westlichen Konstruktion festzuschreiben“. Cubillo schlägt vor, sich auf den Einfluss der 1996 verstorbenen Kngwarreye auf die westliche Kunst zu konzentrieren. „Es wird Zeit, dass die Indigenen eine Geschichte der indigenen Kunst formulieren“, so die Chefkuratorin der australischen Nationalgalerie, die über die weltgrößte Sammlung von Aborigine-Kunst verfügt.
Vor zehn Jahren machte Roger M. Buergels Begriff der „Migration der Formen“ die Runde. Woher so manche Form aus dem europäisch-amerikanischen Kanon gekommen ist, wird einem klar, wenn man die Kunst der Aborigines betrachtet.
Me Collectors Room, Auguststr. 68; bis 2. 4.2018, Mi–Mo 12–18 Uhr. Geschlossen: 24.–26.12. & 1./2. Januar
Jens Hinrichsen
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