Bilanz der Filmfestspiele von Venedig: Schlachtfeld Leinwand
Auch das Kino wird kriegerischer: Bilder von Gewalt und Horror dominieren das 71. Festival am Lido
Bombenalarm im Palazzo del Cinema. Das Gebäude wird evakuiert, Spürhunde inspizieren den Saal. Es ist nur ein herrenloser Rucksack, wie sich herausstellt, kein Grund zur Hysterie. Willem Dafoe und Abel Ferrara laufen mit einstündiger Verspätung über den roten Teppich.
Dafoe spielt „Pasolini“. Schwarze Brille, hohle Wangen, raue Stimme, ein verblüffend ähnlicher Doppelgänger mit unerhörtem Sexappeal. Ferraras Film über den 1975 ermordeten Schriftsteller und Regisseur ist trotzdem eine Enttäuschung, ein Patchwork mit Pasolini-Zitaten, Momentaufnahmen aus den letzten 48 Stunden des Autors, vor- und nachgestellten Filmszenen. Die bürgerliche Familie, Freunde und Weggefährten, Pasolini beim Interview, die Stricher am Strand, ein paar Halbstarke, die ihn in der Nacht des 2. November 1975 erschlagen – ein unpolitischer Film über einen politischen Dichter. Wenigstens betört Ferrara durch eine elegant-suggestive Kameraführung, die Dafoe zum unwiderstehlichsten Leinwandhelden des Festivals macht.
„Die Kunst des Erzählens ist tot, wir sind jetzt in der Trauerzeit“, sagt Pasolini. Was bleibt, sind Scherben, Versatzstücke, Parabeln, Collagen, Epiphanien. Nicht dass das gute alte Erzählkino je totzukriegen wäre, aber die besseren Filmemacher dieser 71. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica, die am heutigen Samstag mit der Verleihung der Löwen zu Ende geht, misstrauen dem Fluss der Zeit. Als Genre bevorzugen sie den Essay, die Farce, den Episodenfilm, Hybridformen zwischen Doku und Fiction. Besonders häufig vertreten: die Geistererscheinung, das Horrorszenario. Vom japanischen Kannibalen-Splatter-Kriegsfilm „Fires on the Plain“ über Joe Dantes Zombie-Teenie-Movie „Burying the Ex“ bis zu Ulrich Seidls Doku „Im Keller“ und der Familientragödie „Ich seh Ich seh“, beide aus Österreich, der Heimstatt des Morbiden.
Zwei Brüder mit ihrer Mutter in einem abgelegenen Haus am Wald. Die Regisseure Severin Fiala und Veronika Franz wählen eine bestechend klare Konstellation. Die Mutter kehrt mit einem Kopfverband aus der Klinik zurück, ihr Gesicht ist nicht erkennbar, ihr Verhalten monströs. Mama, bist du’s? Entfremdung, Panik breiten sich aus. „Ich seh Ich seh“ ist die subtil stilisierte Studie einer Traumatisierung und ungeheuren Trauer, einer fatalen Wahrnehmungsstörung, die die Welt aus den Fugen bringt. Schade, dass der Film nur im Neben-Wettbewerb Orrizonti lief.
Wir leben in kriegerischen Zeiten. In Venedig häuften sich die Kriegsszenarien, Filme über Völker- und Massenmorde in Indonesien und Armenien, über den Ersten und Zweiten Weltkrieg in Nah- und Fernost, Kolonialkriege, Befreiungskriege, Maos Kulturrevolution. Überall versprengte Truppen, Todessehnsüchtige, Hasardeure, Denunzianten und Deserteure. Die grausigen Nachrichten über die von IS-Terroristen geköpften US-Geiseln finden in Venedig ihren direkten Niederschlag in „Good Kill“ von Andrew Niccol, dem letzten der 20 Wettbewerbsfilme. Ethan Hawke sitzt als bewährter Kampfpilot auf einem US-Militärgelände am Rande von Las Vegas. „Sie verlassen die Vereinigten Staaten“, steht an der Tür zu seinem Arbeitsplatz, einer fensterlosen Baracke. Dort träumt er vom Fliegen, während er mit seinen Kameraden Drohnen gegen die Taliban steuert, per Schalthebel und Knopfdruck, im 11000 Kilometer entfernten Afghanistan.
Sie sind anständige Soldaten im Krieg gegen den Terror, auch gegen die Enthauptungen, wie sein Vorgesetzter erwähnt. Allen abgebrühten Sprüchen zum Trotz hegt Tommy Skrupel, vermeidet Fehlschläge, verschont Zivilisten. Bis er die Befehle der CIA ausführen muss, Präventivschläge, schmutzige Attacken mit Dutzenden unschuldiger Opfern. Ein in seiner simplifizierenden Unterscheidung zwischen guter Armee und bösem Geheimdienst entsetzlich zynischer Film.
Krieg in all seinen Schattierungen
Der Krieg exterritorialisiert Täter und Opfer. Die Landschaft degeneriert zum Suchfeld für Zielobjekte, zum abstrakten Gelände im Fadenkreuz. Oder sie wendet sich gegen den Menschen, als feindliche Natur, als grüne Dschungelhölle in „Fires on the Plain“. Oder sie überwältigt mit ihrer Weite und Schönheit. Viggo Mortensen allein auf humaner Mission in der algerischen Wüste (in der Camus-Verfilmung „Loin des Hommes“), der Genozid-Überlebende in den Wüsten Mesopotamiens, in Fatih Akins Armenien-Film „The Cut“, beide verlieren in einer atemberaubenden Landschaft den Boden unter den Füßen.
Wer den Lido verlässt und mit dem Vaporetto zur Architektur-Biennale hinüberfährt, findet den Sand dort wieder. Im israelischen Pavillon zeichnen computergesteuerte Kurvenschreiber Stadtpläne und Landkarten in Bodenfelder mit echtem Wüstensand ein: Siedlungspolitik, Modernisierung, Verstädterung, besetzte Gebiete. Leise surrende Nadeln verwandeln die heillose Entwicklung der Region in eine zarte Kalligraphie, bis eine Metallschiene über sie in Nullkommanichts wieder zerstört. Der menschliche Gestaltungswille und die Gewalt, die ihm innewohnt: Die Filme am Lido füllen diese Miniatur-Geografie mit Leben. Der Krieg, ein Gelände, in dem sich jedes Heldentum verliert. Einsame Wölfe gab es schon 2013 in Venedig zuhauf, der Trend setzt sich fort. Andrei Konchalovsky spürt in „The Postman's White Nights“ der Einsamkeit der Dorfbewohner am Kenozero-See im Norden Russlands nach. Vergessene Menschen in der abgelegensten Gegend der Welt, Kriegsveteranen, Trinker, bettelarme Fischer. Jeden Morgen steigt der tapfere Postbote in die schäbigen Gummilatschen vor seinem Bett, um den Alten per Boot die Rente zu bringen. Eine Mücke zappelt auf zittriger Wasseroberfläche, bei Archangelsk steigt eine Weltraumrakete auf. Große, bewegende Bilder für die Würde der kleinen Leute: Konchalovsky hat den Film ausschließlich mit Laien aus der Region besetzt.
Einsam sind auch die Opfer in „The Look of Silence“, Joshua Oppenheimers zweitem Dokumentarfilm über die Todesschwadronen in Indonesien. Da ist die Einsamkeit der unzertrennlichen Schwestern (Chiara Mastroianni, Charlotte Gainsbourg) in Benoit Jacquots „3 Coeurs“, nachdem sie sich in den gleichen Mann verliebt haben. Die Einsamkeit ihrer wortlos wissenden Mutter (grandios noch im geblümten Schlafanzug: Catherine Deneuve). Und die Einsamkeit des Künstlers, in zahlreichen Festivalfilmen.
Verfolgt, verkannt, unverstanden – der Schauspieler in der Krise wurde zum Prototypen dieses Venedig-Jahrgangs. In Alejandro Iñárritus schwarzer Komödie „Birdman“ läuft Michael Keaton als Ex-Superheld in Unterhosen über den Broadway; er hat sich ausgesperrt aus dem Theater. Der exterritorialisierte Star, dem der Zugang zur Bühne verwehrt ist, eine ikonische Szene. Sie wiederholte sich, mit Al Pacino als ebenso abgehalftertem Schauspieler-Idol in Barry Levinsons „The Humbling“. Keaton und Pacino, Stars, die Stars spielen, Wiedergänger ihrer selbst.
„The Look of Silence“ und „Birdman“, der Massenmordhorror und die Showbusiness-Farce: Diese beiden Wettbewerbsbeiträge firmieren bis zum Schluss als Löwen-Favoriten, beim Publikum wie bei den Fachbesuchern. Hoffentlich übersieht die Jury unter Leitung des Filmmusikkomponisten Alexandre Desplat den stillsten, wuchtigsten unter den politischen Spielfilmen nicht. „Red Amnesia“ von Wang Xiaoshuai beobachtet die Witwe Deng (Lü Zhong) in ihrem Alltag in Peking. Auch sie eine Einzelgängerin, ein rastloser, übergriffiger Sturkopf, sie will nicht ins Heim, nicht zu ihren Söhnen. Ein Junge stellt ihr nach, verfolgt sie bis in ihre Träume; allmählich entfaltet sich die Tragödie eines Verrats, damals während der Kulturrevolution. Noch die Enkelgeneration leidet unter den Folgen.
Am Schluss von „Pasolini“ skizziert Ferrara eine Szene aus einem unrealisierten Film seines Titelhelden. Zwei Wanderer auf dem Weg hinauf ins himmlische Paradies, sie kommen niemals dort an. Als sie sich umdrehen, erblicken sie in der Ferne die Erde. Der blaue Planet, er leuchtet, er strahlt, ein gottverlassener Ort.
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