24-Stunden-Performance "Mount Olympus": Schlachtfeld der Götter
Das Prinzip Erschöpfung: Jan Fabres 24-Stunden-Marathon „Mount Olympus“ beschwört Griechenlands antike Tragödien. Die Uraufführung bei den Berliner Festspielen geht an die Wurzeln unserer Zivilisation.
Was für ein dramatisches Timing! In Brüssel werden die Verhandlungen mit Griechenland abgebrochen, in Athen beschließt das Parlament eine Volksabstimmung über das Spardiktat, Premier Alexis Tsipras spricht von der Erpressung und Erniedrigung eines ganzen Landes, die griechische Staatspleite steht bevor, „es ist nicht und es wird auch nicht mehr gut“, wie es in Shakespeares „Macbeth“ heißt – und in Berlin, beim Sommerfestival „Foreign Affairs“, wühlt eine 24-Stunden-Marathon-Performance mit 27 Akteuren die Welt der antiken griechischen Tragödie, der Götter und der Mythen auf, von vier Uhr nachmittags am Samstag bis vier Uhr nachmittags am Sonntag, nonstop.
An die Grenze gehen und darüber hinaus. An die Grenze dessen, was Menschen auf der Bühne und im Zuschauerraum durchzustehen vermögen –- und sehen, was die Erfahrung mit den Menschen macht. Das war schon immer der Weg des belgischen Regisseurs, Choreografen und bildenden Künstlers Jan Fabre. Der berühmte Insektenforscher Jean-Henri Fabre gehört zu den Vorfahren des 56-Jährigen. Theater als extreme Versuchsanordnung: Der Kosmos von Homer bis Euripides liefert den Stoff und die Werkzeuge, den Himmel und die Erde, die Leinwand und den Rahmen für diesen geplanten Wahnsinn. „Mount Olympus – To glorify the cult of tragedy“, so lautet der Titel des endlosen Stücks. Es hat, wenn man so will, vor über 2500 Jahren begonnen, und es geht weiter. Es nennt sich westliche Zivilisation.
Sie fängt an mit der Austreibung des Dionysos und seiner orgiastischen Spiele. Die Triebe werden eingedämmt. „I gave them just a little bit of madness“, frohlockt der dicke Gott bei Fabre und lädt zum Tanz. Dionysos gezähmt, als Entertainer engagiert. Sieben nackte Männer treten an die Rampe zum „Schwanz- Tanz“ mit fliegenden Zipfeln, das ist die ironisch-unterhaltsame Variante. Es ist ja auch noch früh, noch nicht mal Abend. Nach Mitternacht werden nackte Frauen ihre Vagina mit Blütenblättern schmücken. Stille Reflektion wechselt ab mit Gruppengebrüll, Totenkult mit Tollheit, Kriegsrhetorik mit Exerzitien der Einsamkeit.
Jan Fabre bricht den hohen Ernst mit Witzchen und Mätzchen
Die Kondition des Ensembles muss maßlos bewundert werden. Drill bis zum Umfallen, wie in Kubricks Vietnam-Film „Full Metal Jacket“. Den Helden werden Eislutscher gereicht, zur Erholung. Sonst besteht die Grundnahrung aus rohen Fleischfetzen, der Bühnenboden ist mit Metzgerabfällen übersät. Zwischendurch gibt es auch Vegetarisches, eine ausgedehnte Szene, in der Männer und Frauen Sex mit kleinen Bäumchen haben. Wie penetriert man eine Kübelpflanze, gibt sich den stachligen Blättern hin?
Fabre bricht den hohen Ernst, die nackte Gewaltdarstellung mit Witzchen und Mätzchen. Vierundzwanzig Stunden sind anders nicht zu füllen. Höhen, Tiefen, lange flache Strecken. Eine riesige Sammlung von Bruchstücken, ein Lapidarium voller Menschen. Fabres Prinzip ist die Erschöpfung. Die Wiederholung. Aggressive, kühle Ästhetik mit dem Drang nach dem Göttlichen.
Dem muss man sich aussetzen wollen. Das Theater bietet natürlich Fluchtwege, man kann sich in Pausen retten, verschwinden aus dem Haus der Festspiele, wiederkommen, wieder eintauchen in den Jan Fabres Kosmos, der von kugelförmigen Lampen beleuchtet wird, als wären es Planeten. Als wäre jeder Mensch ein kosmischer Körper, der immerzu mit anderen Meteoriten zusammenkracht. Fabre sucht das Erhabene, die Schönheit im Schrecken, und er nervt. „Mount Olympus“ ist großartig, und es ist grauenvoll. Das kann nicht ausbleiben bei einer solchen Spieldauer. Das Prinzip Erschöpfung ist das Wesen des Kapitalismus.
Jan Fabre inszeniert eine lange Nacht blutiger Messer und Laken
„Mount Olympus“ ist eines der größten Theaterwagnisse der vergangenen Jahrzehnte. Man denkt an das Antikenprojekt der alten Schaubühne, an Peter Stein mit „Faust“ und „Wallenstein“, an Peter Brooks „Mahabharata“. Die schiere Dimension tut gut in einer Zeit, in der das Theater immer kleinteiliger und auch kleinmütiger geworden ist. „Mount Olympus“ hat seiner mächtigen Anlage nach schon Festspielcharakter, es fällt aus der Zeit und wird nachher an einigen Orten in Europa zu sehen sein. Das Projekt spielt mit seiner Singularität, ist nicht beliebig wiederholbar, kein Repertoire – und handelt doch genau davon.
Dass Hekuba und Odysseus, Iokaste und Ödipus, Phädra und Alkestis ewige Wiedergänger sind, dazu verurteilt, ihr Leid und ihre Lust aufs Neue zu durchleben. Fabre wählt hier den klassischen Weg. Seine Schauspieler rezitieren im hohen Ton der Tragödie, starke Monologe auf Französisch, Englisch, Italienisch oder auch Deutsch. Das feierliche Deklamieren irritiert und hat doch Kraft. Weil es in dieser Bilderwelt an die Menschlichkeit der Sprache erinnert. Körper und Sprache. Das wird durchdekliniert. Erziehung, Bestrafung, Selbstkasteiung, Rache, und so ist es dann auch eine lange Nacht blutiger Messer und Laken. Mantrahaft hallt die Frage durch „Mount Olympus“: Wann hört das Morden auf? Nicht am Sonntagmorgen, wenn Agamemnon und Klytämnestra das blutige Nachspiel des Trojanischen Kriegs bestreiten. Um die Zeit twittert jemand: „Griechenland mag bankrott sein. ,Mount Olympus’ steht immer noch.“
Er steht und fällt mit den leisen Momenten. Ein Lied von Schubert, von Massenet. In der Musik liegt die Verheißung und die Ruhe, die sich die Tänzer und Schauspieler zwischendurch gönnen. Auch der Betrachter ist irgendwann mal müde, und dann kommen solche Gedanken: Läuft die Menschheit im Kreis? Spielt der Regisseur Gott? Was für einen Gott? Er teilt die 24 Stunden in 14 Kapitel – wie die 14 Stationen des Leidensweges Christi. Oder halluziniert man schon?
Ein Jahr dauerten die Proben für "Mount Olympus"
Fabre tischt Kitsch auf, mit Kalkül. Spielt Callas und „Casta Diva“ ein und den berühmten Sirtaki von Mikis Theodorakis. Man kann Jan Fabre Hybris vorwerfen: Wieso glaubt er, mit seinen schließlich doch begrenzten Mitteln die Zeit überlisten zu können? Still stehen, schreiten, sich am Boden wälzen, sich in Ketten wickeln, zittern und erbeben, Text sprechen in einer Umgebung, die sich kaum verändert – das Theater kämpft mit einer zugleich stumpfen und gefährlichen Waffe. Das ist der Mensch.
Ein Jahr dauerten die Proben, die Workshops. Denn das ist es, vom Anfang bis zum Ende: ein Rennen, Stolpern, Kriechen, Tasten durch die Theatergeschichte. Erstaunlich lebendig in diesem Totentanz ist der polnische Bühnenasket und Theaterprophet Jerzy Grotowski. Die Theatergötter sind ja fast ausgestorben. Jan Fabre erinnert an ihre Kraft und Existenz im Unterbewussten. Hier bäumt sich die Bühnenkunst mächtig auf. Die Menschen haben die Götter geschaffen, die Götter haben das Theater geschaffen. Und nun kali nichta, kali mera.
Rüdiger Schaper
How to survive 24 h: Auch draußen vor den Saaltüren ist schwer was los
Gibt es eigentlich schon Dissertationen zum Thema „Performance und Kindergeburtstag“? Der Anblick des Berliner Festspielhauses am Sonntagmorgen, acht Uhr, böte Forschungsmaterial für zwanzig Regalmeter. Auf der Bühne geht Jan Fabres „Mount Olympus“, die Berg- und Tal-Wanderung durch die griechische Mythologie, in die 17. Stunde. Gerade ist Kassandra dran. Ihre Nummer heißt „Ekstase“. Die Seherin – zuckt. Jagt Bewegungsimpulse aus dem Schultergürtel über die Körpermitte bis zu den Beinen. 25 Minuten lang. Ununterbrochen. Irgendwann ist sie knallrot im Gesicht. Schwer zu sagen, ob ihr Taumeln noch Darstellungsmittel ist oder schon Erschöpfung.
Und draußen, vor den Saaltüren? Ist ebenfalls schwer was los. Erschlaffte Zuschauer lümmeln sich auf trendy orangefarbenen Feldbetten im oberen Foyer in der Tiefschlafphase. Daneben, für die Halbschläfer-Fraktion: Kuschelige Daunenbett-Atmo beim Public Mythen-Viewing. Wem im Saal die Beinfreiheit nicht reicht, der verfolgt Kassandras olympisches Hochleistungszucken regressiv eingemummelt in der Horizontalen, vor einer Riesenübertragungsleinwand. Eine Etage tiefer, im gläsernen Kassenhallenfoyer, ist unterdessen bereits reger Frühaufsteher-Aktionismus ausgebrochen. Ein Dutzend Morgensport-Freaks, darunter „Foreign-Affairs“-Chef Matthias von Hartz, wagen sich beim Programmpunkt „Griechische Popgymnastik“ an die Mimesis jenes Hüftschwungs, den die Fabre-Company fünfzehn Stunden zuvor bis zum Exzess vorgetanzt hatte.
Antike to go. Nur das "Orakel von Delphi" pennt
Und wem zu dieser frühen Stunde tatsächlich schon nach geistiger Ertüchtigung zumute sein sollte, der lässt sich im Vorbeigehen beim „Stammbaumforscher“ – einem Promovenden in griechischer Mythologie – noch mal schnell Kassandras familiäre Hintergründe erläutern oder ruft alternativ die „Mythenhotline“ an. Olympische Bergbesteigung zum Mit- und Selbermachen, Antike to go. Nur das „Orakel von Delphi“ pennt, während die Fabre-Company drinnen vermeintliche Leichenteile einsammelt, die spätestens seit der 18. Performance-Minute als heimliche Hauptdarsteller reüssieren und als Wurfgegenstände gleichermaßen Eindruck machen wie als Prügelkeulen oder als in gläsernen Wasserschalen zu reinigende Herzmuskeln.
Kurzum: In puncto Exzess-Recherche anno 2015 kann man bei „Mount Olympus“ im Haus der Berliner Festspiele wirklich was lernen; vielleicht sogar mehr, als einem lieb ist. Das Festival „Foreign Affairs“ beschäftigt sich dieses Jahr schwerpunktmäßig mit der Kunst der Zeitverschwendung.
Marathon-Performances als Widerstand gegen die Effizienzgesellschaft. Es gab zuvor bereits ein prominent besetztes Symposium zum „widerständigen“ Kunst-Potenzial. Und dann liefert Fabre im Festsaal zumindest in den besten Momenten seiner Bergbesteigung tatsächlich mal eine Art „Sportstück“. Garantiert ineffiziente Zeitzerdehnung, Erschöpfungsrituale, absichtsvoll nervende Wiederholungsstrukturen. Zum Beispiel diese Hüpfchoreografie am Anfang: Seilspringen unter martialischen Brüll-Deklamationen, die Einar Schleef posthum alle Ehre machen. Mit Metallketten als Sportgeräten. So lange, bis die Stimme versagt und der Letzte umfällt.
Ab der 1400. Performance-Minute geht Jan Fabre zum Dauer-Rave über
Und draußen, vor den Saaltüren? Rührender Event-Häppchen-Eifer. Die Ex-Temporierung ist dem Zeitgenossen aus Theatersicht offenbar nur noch als Dauerabfolge von Exit-Strategien zuzumuten. Falls im Saal tatsächlich mal sowas wie „widerständige“ Zeitwahrnehmung aufkommen sollte, lässt einen die für die Foyerbespielung engagierte Crew von „Filoxenia oder How to survive 24 h“ unter Leitung von Tanja Krone, die andernorts sicher bestens am Platz wäre, mit einer Einladung in die „Kleine Mythenschule“ oder zum Schaf-Grill umgehend ins widerstandsfreie Klassenfahrts- oder Schulwandertagsgefühl zurückgleiten.
Dann: die letzte Stunde. Zum großen Finale drängen auch die Foyer-Fremdgänger noch mal komplett in den Saal zurück; es ist rappelvoll, bis auf die inoffiziellen Stehnischen an der Seite. Ab der 1400. Performance-Minute lässt Jan Fabre noch mal das Eingangs- und Leitmotiv variieren: Eine Art kollektive Kopulations-Choreografie in Anlehnung an die „Bakchen“, jene rasenden Frauen im Gebirg’, die sich unter dionysischem Regiment höchst konditionsintensiven Beischlaf- wie Besäufnis- und Tierzerfleischungsorgien hingeben. Fabre übersetzt das in eine Art Dauer-Rave irgendwo zwischen Berghain und Fernsehballett.
Stehende Ovationen, als Dionysos „Truth is Madness“ ruft. Rockkonzert-Jubel. Volksfeststimmung. Fehlen nur die Feuerzeuge. Klare Niederlage für die Enthemmungspuristen. Wahrscheinlich hat die „Filoxenia“-Crew mit ihrem „Mythos“-Bier und Ouzo doch Recht: Exzess ist Event.
Christine Wahl
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