Jan Fabre: Der blaue Prophet
Jan Fabre hat in den Achtzigern das Theater revolutioniert. Jetzt kommt er wieder ins Hebbel am Ufer in Berlin – mit den legendären Stücken. Meine Begegnung mit dem Regisseur, der sich auch als Tierquäler einen Namen gemacht hat.
Die Bar des Brüsseler Kaaitheaters ist kurz nach Mitternacht nahezu menschenleer. Bloß ein Hipsterpärchen am Nebentisch trinkt sein Duvel, die Kellner hängen hinter den Zapfhähnen. Gepflegte Edward-Hopper-Stimmung. Das Erstaunliche: Der Theatersaal nebenan, wo Jan Fabres Performance „This is Theatre like it was to be expected and foreseen“ in die sechste Stunde geht, ist fast vollbesetzt. Bis nach drei Uhr morgens wird die Vorstellung dauern, ohne Pause. Das Publikum ist eingeladen, jederzeit den Saal zu verlassen, sich zu erfrischen, durchzuatmen. Aber die meisten der überwiegend jungen Zuschauer bleiben sitzen, eisern durchhaltewillig. Am Ende: Standing Ovations. Die Zeiten, als das gleiche Stück die Auditorien leerfegte, mit Inbrunst abgelehnt und verrissen wurde, sind vorbei. Unwiederbringlich.
Jan Fabre, der flämische Regisseur, Choreograf, Maler und überhaupt Gesamtkünstler mit dem nachhallenden Berserkerruf, hat die Theateruhr um dreißig Jahre zurückgedreht. Hat die Arbeiten, mit denen er als Anfang 20-Jähriger die Bühnen Belgiens und bald auch jene in Paris, London und New York eroberte und erschütterte, noch einmal inszeniert: „This is Theatre“ von 1982 und „The Power of Theatrical Madness“ aus dem Jahr 1984. Reenactments nach Originalskript, mit neuer Besetzung.
In den späten Siebzigern, frühen Achtzigern sei die belgische Theaterlandschaft „eine einzige Wüste“ gewesen, ätzt der heute 54-jährige Regisseur. Verstaubte Nationaltheater-Tristesse, kaum freie Szene. Seine Bildersturmgewalt traf die bürgerliche Kulturlandschaft völlig unvorbereitet.
In seinem Durchbruchsstück „This is Theatre“ dehnt Fabre die Dauer eines gewöhnlichen Arbeitstages ins Absurde. Er schickt Alltagsphrasen und soziale Rituale in den Loop. Lässt den Readymade-Pionier Marcel Duchamp per Einspieler über die Undefinierbarkeit von Kunst philosophieren. Und baut allerlei dadaistische und drastische Menschentableaux zum Thema Macht und Geschlechterkampf. In einer Szene ziehen sich ein Mann und eine Frau in Hochgeschwindigkeit voreinander aus und wieder an. Das Ganze dauert über hundert Minuten, buchstäblich bis zur Erschöpfung.
In „The Power of Theatrical Madness“ veranstaltet Fabre vor projizierten Gemälden der alten Meister ein bizarres Hochkulturquiz. „1876?“ Wer von den Performern das Datum nicht als Premierenjahr von Wagners „Ring des Nibelungen“ identifiziert, muss mit Gewaltanwendung rechnen. Doch diese Angriffe werden nicht ohne Ironie geführt.
Nun zeigt Annemie Vanackere die neuen alten Stücke im HAU. Zuletzt war 1999 an gleicher Stelle eine Inszenierung von Fabre in Berlin zu sehen, noch zu Zeiten der Hebbel-Theater-Intendanz von Nele Hertling. Sie hatte den jungen Regiewüstling in ihrem Eröffnungsjahr 1989 mit gleich drei Stücken präsentiert: „Das Interview das stirbt“, „Der Palast um vier Uhr morgens“ und „Die Reinkarnation Gottes“. Das „Interview“ verursachte einen mittleren Skandal, weil Fabre darin lebende Fische aufs Trockene legte. Ein Jahr zuvor war der Mann bereits am Kreuzberger Künstlerhaus Bethanien auffällig geworden, wo er einen Raum vollständig in Blau getaucht hatte. Mit Kugelschreibern der Marke Bic, lange Zeit das bevorzugte Arbeitsgerät des Absolventen der Königlichen Kunstakademie Antwerpen.
Man war damals, das steht fest, noch nicht so sattgesehen und alles gewohnt wie heute.
Die Schauspieler müssen leiden
Die erste Vorstellung von „This is Theatre“ in Brüssel endete seinerzeit vor zwei Zuschauern, das erste Gastspiel in Deutschland 1985 beim „Theater der Welt“ in Frankfurt vor immerhin vierzig. Darunter Tom Stromberg, William Forsythe, Peter Zadek. Bei der Londoner Aufführung von „The Power of Theatrical Madness“ in der Royal Albert Hall herrschte über weite Strecken pure Anarchie, es wurde geschrien, geraucht, getrunken, im Publikum saßen Künstler wie Mick Jagger, David Bowie oder David Byrne. „Mein Glück war“, sagt Fabre über seine Anfänge, „dass stets ein paar gute Leute bis zum Schluss geblieben sind.“
Wenn man sein Debüt heute sieht, projiziert man unweigerlich die Bilder aus wilden Tagen auf das Geschehen. Egal, ob man das Original kennt oder nicht. Der Zeittunnelblick schafft die Bedeutung. Der Künstler, dem die renommiertesten Ausstellungshallen der Welt ihre Tore öffnen, dessen Signalfarbe immer noch das tiefe Blau ist, lädt ein in die Theaterpinakothek der Moderne. Seine Kunst aber widersetzt sich der Musealisierung. Die Schockwirkung mag Geschichte sein. Die eigenwillige Poesie lebt fort.
Eigentlich wollte Fabre diese Rückbesinnung auf die Grundsteine der eigenen Legende nie. „Ich dachte, der Mythos sei größer als die Realität“, sagt er. Aber dann siegte der Wunsch, einer nachgewachsenen Generation das Frühwerk zu erschließen – in Vorbereitung auf sein 24-Stunden- Projekt „Mount Olympus“ im kommenden Jahr. „Die Performances haben an Kraft, Radikalität und Kompromisslosigkeit sogar noch gewonnen“, findet Fabre selbst, dessen Problem nie mangelndes Selbstbewusstsein war. Als die Arbeiten entstanden, gibt er zu bedenken, existierte in seinem Büro noch nicht mal ein Faxgerät. Heute platzten sie in eine Gegenwart der forcierten Smartphone-Twitter-Facebook-Beschleunigung. Und behaupteten sich gegen die Zeitläufe „wie Fische, die stromaufwärts schwimmen“.
Fragt man Fabre, ob es früher leichter war, die Erwartungen des Betriebs zu unterlaufen, zieht er die Luft ein. „Gentleman, listen!“, entgegnet er mit seiner markanten Kettenraucherstimme, nicht aggressiv, bloß entschieden. „Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, Avantgarde zu sein. Nicht über Provokationen oder Erwartungen. Alles, was ich getan habe, geschah aus dem Gefühl der Notwendigkeit heraus.“
Vermutlich stimmt das sogar. Aber erst im vergangenen Jahr schlugen mal wieder die Skandalwogen über Fabre zusammen. Während des Drehs für den Dokumentarfilm „Dr. Fabre will cure you“ wurden vor dem Antwerpener Rathaus Katzen in die Luft geschleudert. In der Folge erreichten den Künstler 20 000 Hassmails, er selbst und alle seine Mitarbeiter wurden mit dem Tod bedroht. Nicht zum ersten Mal.
In jedem Fall hat sich der gelernte Schaufensterdekorateur, Sohn eines Gärtners, Enkel eines Insektenforschers, seinen Extremistennimbus hart erarbeitet. Indem er zum Beispiel die Säulen des Genter Universitätsportals mit 600 Kilogramm Schinken bepflasterte, der langsam verrottete. Oder den Spiegelsaal des Brüsseler Königspalastes mit eineinhalb Millionen Chitinpanzern von thailändischen Juwelenkäfern schmückte, die in sattem Grün schimmerten. Tod und Schönheit. Seine großen Themen.
Und natürlich: der Körper. Fabre hat den menschlichen Leib stets an die Schmerzgrenze getrieben. Bis zum Gehtnichtmehr choreografiert. Und damit so ziemlich jede Mode des zeitgenössischen Tanzes schon vorweggenommen. Auch von den 15 exzellenten Performern, die unter 700 Kandidaten für seine Reenactments ausgewählt wurden, ist Entgrenzungsbereitschaft verlangt. Die zur Entblößung sowieso. In einer der quälendsten Szenen von „This is Theatre“ kriechen sie auf dem Boden herum und lecken milchige Flüssigkeit auf, die zuvor aus pendelnden Säcken sternförmig vergossen wurde. Unter Hecheln und Würgen.
Ist mittlerweile auf der Bühne alles mit dem Körper veranstaltet worden, was möglich ist? „Gentleman, I tell you something“, raunzt Fabre. Und erzählt dann, dass er 30 Jahre lang den physischen, den erotischen und den spirituellen Leib erforscht habe. „Die Organe, die Haut, die Tränen, das Blut und das Sperma. „Bis er nun, in der jüngeren Vergangenheit, zum „sexiesten Teil des Körpers“ vorgedrungen sei. Dem Gehirn. „Terra incognita!“, schwärmt er. Auch eine Wandlung. Vom Hitzkopf zum Hirnforscher.
Kürzlich hat Jan Fabre seine Tagebücher aus den achtziger Jahren in der Heimat veröffentlicht, bald sollen sie auch auf Deutsch erscheinen. Er sagt: „Ganz ehrlich, wenn ich dem jungen Jan Fabre heute begegnen würde, ich würde ihm in den Arsch treten.“ Arrogant und prätentiös sei dieser angry young man gewesen. Einer, der nach achtstündiger Performance dem Publikum noch dreistündige Vorträge hielt.
„The Power of Theatrical Madness“, HAU 1, 9. und 10.4., 19.30 Uhr. „This is Theatre like it was to be expected and foreseen“, HAU 1, 12. und 13.4., 18 Uhr.
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