zum Hauptinhalt
Mann am Klavier. Daniel Barenboim dirigiert das Silvesterkonzert der Philharmoniker
© Monika Rittershaus

Berliner Philharmoniker: Schatullen voller Schmuckstücke

Wenn schon Ravels „Boléro“ auf dem Programm steht, dann bitte so musiziert: das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker.

Warum vor 200 Jahren gerade Klavierkonzerte gerne fürstliche Beinamen bekamen – wenn auch nicht von den Komponisten selbst –, darüber kann man nur spekulieren: Hat der festliche, perlende Charakter des Instruments etwas Staatstragendes? „Emperor“ nennt man im englischen Sprachraum Beethovens 5. Klavierkonzert, und das 1788 geschriebene D-Dur- Konzert KV 537 von Mozart hieß später „Krönungskonzert“, obwohl es nie offiziell zur Inthronisierung Leopolds II. aufgeführt wurde und Mozart es wohl auch nicht für den Anlass geschrieben hat. Sondern eher, um seine zu diesem Zeitpunkt schon wieder schwindende Popularität beim Wiener Publikum neu zu befeuern.

In ein Silvesterkonzert passt das feierliche, aber durch zahlreiche chromatische Modulationen in Moll zwiespältige Werk hervorragend. Allerdings bieten die Berliner Philharmoniker in ihrem Hauptprogramm zum Jahreswechsel neben Mozart nur noch einen weiteren Komponisten dar: Maurice Ravel. Das könnte man asketisch nennen, würden nicht als Zugaben noch vier feurige Nummern aus Bizets „Carmen“, dieser Allzweckwaffe der Operngeschichte, folgen.

Silvesterkonzerte sind Chefsache, was aber tun, wenn es gerade – Simon Rattle ist weg, Kirill Petrenko fängt erst im Sommer 2019 an – keinen gibt? In Berlin steht dann der auch mit 76 Jahren noch unfassbar umtriebige Daniel Barenboim bereit, der dem Orchester seit einem halben Jahrhundert vertraut ist; sein Debüt mit den Philharmonikern als Pianist war 1964, als Dirigent 1969. Dass er zweimal als Chefdirigent im Rennen war, es dann aber doch nicht wurde und es am Ende der Ära Rattle nicht mehr werden wollte, hat die Partnerschaft nie getrübt.

Der Maestro dirigiert vom Klavier aus, wie es um 1800 üblich war

Jetzt ist Barenboim Solist in Mozarts Konzert und dirigiert vom Klavier aus, wie es um 1800 üblich war. Und findet, nachdem das Orchester das Hauptthema vorgestellt hat, sofort zu einem charmanten, sphärischen Ton in dem prägnanten, viermal repetierten D der rechten Hand, das dem Thema eingängigen Rhythmus und Zugkraft verleiht. Viel dirigieren muss er gar nicht, den Philharmonikern ist das Stück sehr vertraut: mal ein weiter Schwung mit dem Arm, mal die Modellierung eines Details mit der Hand, oft aber kann er die Musiker einfach sich selbst überlassen. Mit einer gewissen Vehemenz, meistens forsch, dynamisch recht eindeutig geht das Orchester seinen Part an – in signifikantem Kontrast zum Solisten Barenboim. Der beschreitet über drei Sätze hinweg den entgegengesetzten Weg, wird immer jenseitiger, entrückter, lässt das Thema des Allegrettos wie aus dem Nichts entstehen. Und schenkt dem Publikum trotzdem in einigen Passagen jenen jovialen Mozart, den es so liebt.

Für Ravel war der um 1900 gar nicht so sehr wie heute geschätzte Wiener Meister leuchtendes Vorbild. Ravels Werke gleichen Schatullen voller Preziosen: Sie sind eher klein dimensioniert, aber darin funkeln die Miniaturen. Der begnadete Orchestrierer konnte auf engstem Raum seine Hörer in ein Klangfarbenbad tauchen wie kein zweiter. Etwa in „Rapsodie espagnol“ und „Alborada del gracioso“ („Morgenlied des Narren“), zwei seiner vielen musikalischen Hommagen an das von dem Basken so sehr geliebte Spanien: ein orchestraler Ausbruch hier, dann wieder nur zwei Instrumente, die Stimmführer der ersten Geigen mit der Harfe.

Aufwachsen statt einschlummern mit der "Pavane pour une infante défunte"

Enorm kleinteilig, von schillerndem, ständig schlingerndem Charakter ist diese dem Publikum nicht sehr vertraute Musik; vor Beginn des ruhigen Mittelteils des „Narren“ muss Barenboim mit erhobener Hand den einsetzenden Applaus abblocken. Eher einem augenreibenden Aufwachen als einem Entschlummern gleicht die „Pavane pour une infante défunte“ („Pavane für eine entschlafene Infantin“), die mit einem Hornsolomotiv beginnt, das gleich von Albrecht Mayers Oboe übernommen wird, bevor es im ganzen Orchester aufblüht.

Und dann der Kehraus: der unvermeidliche „Boléro“ – Ravels einziger Welterfolg, von dem er selbst sagte: „Leider hat es nichts mit Musik zu tun.“ Über den kaum sichtbaren, da mitten im Orchester platzierten kleinen Trommeln intoniert Emmanuel Pahuds Flöte leise die berühmte Melodie, die sich mit erbarmungsloser, algorithmusartiger Logik wiederholt: Würden Bots jetzt auch komponieren, es klänge wohl genau so. Erträglich wird das einzig durch Ravels sich ins Fantastische steigernde Instrumentierung. Und wie Barenboim und die Philharmoniker dieses Crescendo dynamisch aufbauen, wie hier ein Kollektiv in stillem Einverständnis die Lautstärke über 16 Minuten hinweg so klug steigert – das hat schon große Klasse. Wenn „Boléro“, dann bitte so: die maschinelle Unerbittlichkeit löst sich auf in musikalischer Subjektivität, also letztlich in Menschlichkeit. Udo Badelt

Das Konzert wird am 31. Dezember um 17.15 in der Berliner Philharmonie wiederholt, live in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker übertragen und dort einige Tage später auch im Archiv zur Verfügung stehen. Außerdem zeigt der Fernsehsender arte das Konzert zeitversetzt ab 18.40 Uhr. Ebenfalls live überträgt RBB-Kulturradio, der Mitschnitt kann auf www.kulturradio.de sieben Tage lang nach gehört werden.

Zur Startseite