„Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg: Salzburger Kriegsspiele
Wo geht’s zur Front? Bei den Festspielen enttäuschen die Inszenierungen von Karl Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit“ und Katie Mitchells „The Forbidden Zone“.
Die Apokalypse als Sommerspektakel? Vielleicht ist es Karl Kraus, der einst allgewaltige Sprach- und Weltankläger, der es aus dem wolkenschweren Kritikerhimmel seit Tagen herabregnen lässt auf die Festspielstadt Salzburg. Gleichzeitig geben sie zum Auftakt des diesjährigen Schauspielprogramms sein Opus magnum: „Die letzten Tage der Menschheit“.
Es ist Weltkriegs-Jubiläumsjahr, und zwischen österreichischem Bundespräsidenten und Beethovens Trauermarsch hat der Historiker Christopher Clark („Die Schlafwandler“) schon in seiner geistvollen Rede zur Festspieleröffnung den Ersten Weltkrieg aus der Sicht der meisten Zeitgenossen ein „Gewitter aus heiterem Himmel“ genannt. Doch für Karl Kraus war es fast von Anbeginn bereits eine Sintflut.
Ab 1915 hatte der Wiener Großpublizist an seinem Riesendrama über Österreich, Deutschland und die Welt als Schlachthaus des Krieges geschrieben, das zunächst in Sonderheften seiner Zeitschrift „Die Fackel“ erschien und 1922 erstmals als Buch. Just zu dieser Nachkriegszeit hatten der Dichter Hugo von Hofmannsthal und der wienerisch-berlinische Theaterheros Max Reinhardt rund um Hofmannsthals „Jedermann“ plus „Großem Welttheater“ die Salzburger Festspiele gegründet. Worauf Karl Kraus nur ätzte, dass es auf Leichenbergen keine Feste zu feiern gebe.
Die Bomben des Krieges sind nicht mehr als ein Paukenschlag
Freilich hat K. K. gleich im ersten Akt seiner „Letzten Tage“ nicht auf den Witz verzichtet, seinen gleichaltrigen Antipoden Hugo von Hofmannsthal unter vollem Namen als sentimentalen Drückeberger zu karikieren, der statt im Schützengraben im Büro des „Kriegsfürsorgeamts“ die Zeitung liest. Kaffeehausliteratur. Im Übrigen haben die Apokalypse und das Jüngste Gericht in den Künsten von jeher neben der Mahnung auch zur Erbauung gedient. Noch das Grausigste wird „a Hetz“, wie’s in den „Letzten Tagen“ nicht nur Militärs und ein Scharfrichter nennen, ein Mordsspaß eben. Der große Krauskarl (1936 gestorben) weist so schon voraus auf den kleinen, gemeinen „Herrn Karl“ im und nach dem Zweiten Krieg: auf den von Helmut Qualtinger später verewigten Wiener Typus, der aus seinem Herzen auch gern eine Mördergrube macht.
In Georg Schmiedleitners über vierstündiger Inszenierung im Salzburger Landestheater dominieren nun die Karikaturen eben jenes Typs. Egal ob Kaiser, General oder Metzger, ob Gräfin oder Kurtisane, fast alle wirken eher kleinbürgerlich g’schert, kaum militärisch gefährlich. Ihnen bläst die immerzu aus dem Unterboden auffahrende oder durchs Hinterbühnengerüst hervorbrechende Kapelle der „Postmusik Salzburg“ den Marsch. Man wähnt sich bei so viel niederschmetterndem Humtata im Platzkonzert. Und die Bomben des Krieges sind nicht mehr als ein Paukenschlag.
Aus dem Weltdrama wird ein Stück verrutschtes Volkstheater
Herr und Frau Karl, schwarz berockt und weiß behemdet, bleiben sehr zivil und der Herr Kraus und seine Monster meist außen vor. Der aus Linz stammende 57-jährige Schauspiel- und Opernregisseur Schmiedleitner war bei diesem Arrangement gewiss nicht zu beneiden. Die Festspiel-Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater sollte ursprünglich Matthias Hartmann inszenieren, der im Frühjahr unter dem Vorwurf finanzieller Unregelmäßigkeiten als Burgdirektor entlassen wurde. Schmiedleitner sprang kurzfristig ein, um die Salzburger Premiere zu retten. Jetzt indes weiß man, dass eine szenische Lesung der „Letzten Tage“ vermutlich eindrucksvoller gewesen wäre als dieser unselige Aufführungsversuch, in dem aus einem Weltdrama ein Stück verrutschtes Volkstheater geworden ist.
Einst hatte Helmut Qualtinger das 800 Buchseiten schwere, tausend Rollen in fast 250 Szenen entfaltende Kriegsuntergangsspektakel zu einer fabelhaften Einmann-Jedermann/Jederfrau-Show gemacht. Qualtinger las alle Rollen des zwischen Wien, Berlin, Belgrad, Belgien, Himmel und Hölle, zwischen Generalstab, Puff, Kaffeehaus, Massengrab, Ringcorso flackernden Panoptikums mit einem eigenen Klang, er konnte berlinern und wienern, jeder Tonfall war ein Welt-Fall. Universell. In Salzburg aber können sie nur ein Bühnenösterreichisch, ein Theater(kabarett)deutsch, eine blutleere Mischung aus Stadl und Schmiere. Bühnenbild fast keines, statt Dämonie, Geist oder Geisterhaftem nur Theaternebel.
Zwei Berliner Gören spielen Totschießen
Georg Schmiedleitner und sein Dramaturg Florian Hirsch haben etwa fünfzig meist gekürzte Szenen aus dem Monstrum geschnitten, manche wie zufällig. Die einzige Idee ist dabei ein Detail: Peter Matic und Elisabeth Orth, die beiden großen ältesten Akteure des 13-köpfigen, zum Teil erschreckend provinziellen Ensembles, geben zwei Berliner Gören, die Totschießen spielen. Der Krieg, das alte böse Kinderspiel. Aber das wirkt kaum inszeniert, bleibt pure Andeutung. Kaum Komik, kein Grusel. Daneben die beiden durchgehenden Hauptfiguren, der Nörgler als Erzähler und Alter Ego des Autors sowie sein Widerpart, der Optimist: zwei schwitzende, hochkonventionelle Melodramatiker, nichts Schneidendes. Und die wunderbare Dörte Lyssewski (einst Berliner Schaubühne) als zynischer Kriegsberichterstatter Schalek: verunstaltet, kaum erkennbar unter einer Pelzmütze, als sei der vierjährige Weltkrieg (selbst im Kasino) ein einziger Theaterwinter gewesen.
Auf der Perner-Insel hat am Folgetag Katie Mitchell „The Forbidden Zone“ vorgestellt. Nur 75 Minuten für beide Jahrhundertweltkriege, aber wie üblich mit teuerstem technischen Video-Aufwand und koproduziert mit der Schaubühne, also demnächst auch in Berlin. Man sieht unter einer Riesenleinwand auf zwei hin- und herrangierende Bahnwaggons und drei Szenerien als Filmtheaterset. Darin wird andeutungsweise gespielt und im Castorf-Mitchell-Stil vor und hinter den Kulissen gefilmt und englisch, amerikanisch, französisch gesprochen. Die „verbotene Zone“ meint dabei ebenso ein Militärlazarett mit Giftgasopfern 1915 an der französisch-englisch-deutschen Front wie die Labore der Giftgasforscher, auch nach dem Ersten Weltkrieg.
Schnappschüsse statt Frauenbilder
Weltgeschichte wird auf ein paar szenische Wimpernschläge reduziert. Mit feministisch-pazifistischen Zitaten von Mary Borden, Virginia Woolf oder Simone de Beauvoir gespickt, geht es um die parallel gespielten und gefilmten Selbstmorde zweier junger Frauen: 1915 erschießt sich die Chemikerin Clara Haber, geborene Immerwahr, in der Berlin-Dahlemer Villa ihres Mannes Fritz Haber, der als Giftgasforscher für Volk und Vaterland gerade über ein paar tausend Leichen gegangen ist.
1918 wird er den Nobelpreis für Chemie als Pionier des lebenswichtigen Kunstdüngers erhalten, sein Institut existiert in Berlin bis heute. 1949 in Chicago bringt sich dann Claras und Fritzens Enkelin Claire Haber gleichfalls um: Sie hatte wohl erfahren, dass ihr 1934 gestorbener Großvater mittelbar auch zur Entwicklung von Zyklon B beigetragen hatte, dem Giftgas von Auschwitz.
Katie Mitchell versucht mit den beiden gefühlsbewegten Schauspielerinnen Ruth Marie Kröger und Jenny König aus Momentaufnahmen, mal in Cinemascope, mal (für 1915) in Sepiafarben, menschheitsgeschichtliche Frauenbilder zu entwerfen. Doch es gelingen nur Schnappschüsse, die ohne genauere Kenntnis der Historie kaum verständlich sind, und die Männer dazwischen sind als Opfer entweder Engel oder Teufel als Täter. Weit eindrucksvoller hat den Kern dieser Geschichte erst kürzlich der Fernsehfilm „Clara Immerwahr“ mit der grandiosen Hauptdarstellerin Katharina Schüttler erzählt. Allerdings hätte etwas von Mitchells bewegtem Bildertheater auch den biederen „Letzten Tagen der Menschheit“ in Salzburg gutgetan.
Peter von Becker