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In Polen sorgte Tokarczuks „Die Jakobsbücher“ für Anfeindungen.
© AFP/Britta Pedersen

Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk: Reich an Mystik

Mit ihren Romanen greift Olga Tokarczuk weit in die Geschichte. Ihre Bücher sind Reisen durch die Jahrhunderte, Sprachen und Religionen.

„Durch Wüste und Wildnis“ heißt ein mehrfach verfilmter afrikanischer Abenteuerroman von Henryk Sinkiewicz, der 1905 als erster Pole den Literaturnobelpreis erhielt. „Kosmische Weite und Großzügigkeit“ reklamierte Czesław Miłosz, Nobelpreisträger des Jahres 1980, für seine Poesie. Der unerschrockene Gang durch Wüste, der erzählerische Drang in die kosmische Weite und schließlich die widerständige, bis zu 1200 Seiten pro Buch einnehmende Schrift sind drei Topoi, die auf das Werk Olga Tokarczuks zutreffen, der rückwirkend der Literaturnobelpreis 2018 zugesprochen wurde.

Spätestens seit sie im vergangenen Jahr mit ihrer englischen Übersetzerin Jennifer Croft für ihren bedeutenden Roman „Unrast“ den Londoner Man Booker Prize sowie den Schweizer Jan-Michalski-Literaturpreis erhielt, zählte Tokarczuk zum Kreis der Stockholmer Favoritinnen. Damit ging die höchste literarische Auszeichnung zum sechsten Mal nach Polen, denn auch Władysław Reymont, Verfasser des kapitalismuskritischen Industrieromans „Das gelobte Land“ und der jüdisch-amerikanische Romancier Isaac Bashevi Singer mit seinen unsterblichen Schtetl-Geschichten gehören in diese Reihe.

Wie Singer lotet die 1962 in Sulechów (Züllichau) im Lebuser Land geborene Olga Tokarczuk in ihrem bereits jetzt konventionelle Maßstäbe sprengenden Werk die Grenzen zwischen Religion und Moderne, Mystizismus und Aufklärung aus. Das beweist trefflich ihr jüngster Roman „Die Jakobsbücher“, der soeben in der deutschen Übersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein beim Zürcher Kampa Verlag erschienen ist. In einem eindrucksvollen Journal haben die Übersetzer ihre detektivische Arbeit dokumentiert. Dieser Tage stellt Tokarczuk ihren Roman auf einer Lesereise in Deutschland vor und wird auch auf der Frankfurter Buchmesse erwartet.

Mit fast 1200 Seiten durch fünf Sprachen

Nach dem Vorbild des Talmud ist die Lebensgeschichte des ketzerischen Messias Jakób Joseph Frank (1726-1791) von hinten nach vorne nummeriert, beginnend auf Seite 1152. Das Eingangskapitel „Das Buch des Nebels“ setzt im Jahr 1752 im westukrainischen Rohatyn ein, das seinerzeit zum multinationalen Polnisch-Litauischen Großreich gehörte.

Zehn Jahre hat Olga Tokarczuk für ihre enzyklopädische Darstellung des 18. Jahrhunderts anhand einer exemplarischen Biografie recherchiert. Der aschkenasische Jude Jakób Frank konvertierte zunächst zum Islam, dann zum Katholizismus und errichtete schließlich eine Art Hofstaat in Offenbach. Der Alchimist und selbsternannte Messias gilt als Erneuerer des Judentums in Osteuropa und ist heute eine höchst umstrittene Figur.

Olga Tokarczuk betrachtet ihr Opus magnum als „eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet“, wie es eingangs heißt. Dass sie „Die Jakobsbücher“ ihren Landsleuten zur Besinnung" anempfiehlt, ist als Seitenhieb zu verstehen.

Nicht von allen geliebt

Denn obwohl die 57-Jährige seit ihrem Debüt mit der Gedichtsammlung „Städte in Spiegeln“ in ihrer Heimat große Bekanntheit genießt, wurde sie wegen der „Jakobsbücher“ auch heftig angefeindet. Eine derart bilderstürmerische Lebensbeschreibung eines Ketzers steht dem derzeitigen klerikalen Klima in Polen diametral entgegen; trotzdem oder gerade deshalb entwickelte sich die reich illustrierte historische Saga zum Bestseller.

Die Stockholmer Jury lobt Olga Tokarczuks „erzählerische Imagination, die mit enzyklopädischer Leidenschaft die Grenzüberschreitung als Lebensform verkörpert“. Dieser Hang zur Grenzüberschreitung hat die verhältnismäßig junge Laureatin nicht nur in längst vergangene Jahrhunderte geführt, sondern auch an die geographische Peripherie, etwa in ihrem Wald-Thriller „Der Gesang der Fledermäuse“, übersetzt von der 2013 verstorbenen Doreen Daume.

Tokarczuk arbeitete lange als Therapeutin

Wie ihr 20 Jahre älterer Co-Preisträger Peter Handke sucht Olga Tokarczuk mit ihren oft verschrobenen Romanfiguren Trost und Erbauung in der Natur, fern von den Menschen. Nach dem Studium der Psychologie in Warschau, bei der ihr die Lehren des Analytikers Carl Gustav Jungs besonders wichtig wurden, arbeitete Tokarczuk zunächst als Therapeutin in einer Einrichtung für verhaltensauffällige Jugendliche. Seit gut zwanzig Jahren lebt sie in dem niederschlesischen Dorf Krajanów bei Nowa Ruda (Neurode) und in Breslau. Zeitweise betrieb sie einen eigenen Kleinverlag namens Ruta.

Das von Stefanie Peter herausgegebene „Alphabet der polnischen Wunder“ (Suhrkamp) erwähnt Tokarczuk als Protagonistin der „Landbewegung polnischer Literaten“ wie auch unter dem nicht ganz ernstgemeinten Stichwort „Deutschtümelei“. Ihr Roman „E.E.“ spielt vor hundert Jahren im deutschen Breslau, wo ihre Hauptfigur als Medium Furore macht. „E.E.“ wurde noch nicht ins Deutsche übersetzt. Ihr rhapsodisches, weit in Historie und Mystik ausgreifendes Werk verheißt für hiesige Leserinnen und Leser noch viele lohnende Überraschungen.

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