zum Hauptinhalt
Olga Tokarczuk, hier im März im Wroclaw, vertiefte sich jahrelang in die Recherche für ihr neues Buch.
© Krzysztof Cwik/Reuters

Nobelpreisträgerin in Potsdam: Wie Olga Tokarczuk schon am Mittwoch feierte

Wilde Haare, verschmitztes Lächeln - und Champagner: Eine Begegnung mit Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Der Champagnerkorken knallte, am Mittwochabend schon. Buchhändler Carsten Wist hatte die Fenster weit geöffnet, ganz Potsdam, fand er, sollte mitbekommen, was sich hier ereignete, in seiner kleinen Buchhandlung in der Innenstadt. Olga Tokarczuk las aus ihrem neuen Buch, für die Deutschlandpremiere der „Jakobsbücher“ wurde der Champagner geköpft und ausgeschenkt – erstmal anstoßen. Wists Kompagnon Felix Palent berichtete von den Londoner Buchmachern, die zu dieser Stunde 1:8 darauf wetteten, dass die polnische Schriftstellerin den Literaturnobelpreis bekommt. Am Donnerstag sind all jene reicher, die auf diese Wette eingegangen sind.

Olga Tokarczuk scheint fast zusammen zu zucken bei der Aussicht. Eher scheu sitzt sie am Holztisch, neben sich ihre Übersetzerin Lisa Palmes, die sie zur Verstärkung mitgebracht hat. Jedes Mal, wenn die Autorin sich ihr zuwendet, schaukeln ihre Ohrringe. Es wird ein intimer Abend, vier Vortragende, dazu 30, 35 Zuhörer, auf Ikea-Klappstühlen dicht gedrängt im kleinen ersten Stock. Schon einmal ist die Schriftstellerin hier gewesen, 2009, mit „Unrast“, dem Buch, für das sie den International Man Booker Prize bekommen hatte, und den der Kampa Verlag jetzt ebenfalls neu herausgebracht hat.

Sie strahlt, als die beiden Buchhändler den Untertitel des Buches rezitieren, wie einen ironischen Sprechgesang im Duett: „Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Regionen …“ Der Untertitel ist fast so lang wie der historische Roman, der knapp 1200 Seiten zählt. Aber von wegen, historischer Roman. Tokarczuk glaubt nicht, dass es so was überhaupt geben kann: „Er ist immer ein Zeichen für die Zeit, in der er entsteht.“ In Polen, wo das Buch schon 2014 erschien, wurde es  offenbar als besonders starkes Zeichen verstanden  – ein Bestseller, „den alle, die Literatur lesen, im Regal hatten“.  

Gereist ist sie selber, an all die Orte, an denen ihre Figuren waren. Gut acht Jahre hat sie gearbeitet an ihrem Werk, nichts anderes gelesen mehr. „Ich war ganz in der Sphäre gefangen. Als ich fertig war, hab’ ich erst mal eine ganze Schachtel Zigaretten geraucht.“ Sie berichtet von ihren Recherchen, den zahllosen historischen Details und Fallstricken. Wie sie einmal eine Szene entwarf, in der das Kerzenlicht sich romantisch in den Nähnadeln spiegelte, nur um irgendwann festzustellen, dass es damals noch gar keine Metallnadeln gab.

"Als Neurotikerin kann ich ihn verstehen"

Fast etwas Mädchenhaftes hat die 57-Jährige mit dem kurzen, geraden Pony, dem wilden Haar, von dem gar man nicht ganz sicher ist, ob es nun Haar ist oder Wolle, den großen Augen, dem verschmitzten Lächeln. Beim Reden tanzt sie mit den Händen. So erklärt sie ihre Faszination für die Hauptfigur, Jakob Frank, ein aschkenasischer Jude, der seine eigene messianische Bewegung gründete, „der sich mit der katholischen Kirche anlegte, so viele Anhänger hatte“ – und über den man in Polen, als sie mit ihrem Buch begann, doch so wenig wusste. Eine Weile habe sie schon gebraucht, um wirklich Zugang zu ihm zu kriegen. „Aus heutiger Sicht“, sagt die Schriftstellerin, die auch klinische Psychologin ist, „würde man ihn als Psychopathen beschreiben. Aber als Neurotikerin kann ich ihn verstehen.“ Sagt’s und lacht und nimmt noch einen Schluck aus dem Champagnerglas. „Man kann ihn auch als Reformer betrachten.“

Am Schluss empfiehlt die Autorin den Zuhörern freundlich, sich eine Grippe zuzulegen oder sonst eine nicht allzu bedrohliche Krankheit, um die 1200 Seiten in Ruhe zu lesen. Und in die Welt des 18. Jahrhunderts so einzutauchen, wie sie es beim Schreiben tat.

Zur Startseite