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Startstation Sehnsucht. Frei fühlt sich Farah (Baya Medhaffer), wenn sie in ihrer Band singen kann.
© kairosfilm

Vitales Kino aus Tunesien: "Kaum öffne ich die Augen": Raus aus dem Käfig

Die Arabellion ist Geschichte. Und die Zeit davor fast schon wieder Gegenwart? Leyla Bouzid feiert in ihrem Kino-Debüt „Kaum öffne ich die Augen“ den Geist des Aufbruchs.

Die Folterszene, in einer einzigen Einstellung gedreht, ist unendliche vier Minuten lang. Es ist „Psychofolter“, sagt Regisseurin Leyla Bouzid, was da zwei Männer der jungen Rocksängerin Farah antun, die im Sommerhemdchen auf einem Stuhl kauert in kahlem Raum. Und es ist mehr: Denn einer schlägt sie ein paarmal auf die Wange, der andere fasst sie an den nackten Schultern und drückt sie näher an seinen schreienden Kollegen heran, und immer wieder hält die Wimmernde die Hände vors Gesicht. Bis sie stammelnd verspricht, nie mehr zu singen.

Mit einer solchen Gewaltszene – „Kaum öffne ich die Augen“ spielt im Sommer 2010, kurz vor der Arabellion, die in Tunesien begann – haben auch heutige Zensoren offenbar kein Problem. Zeigt sie doch, einschüchternd, wie man rebellische Untertanen mundtot macht, und derlei volkspädagogischer Nebeneffekt ist ihnen stets willkommen. Ganz anders dagegen Szenen, die von der Liebe, gar der sexuellen Liebe, erzählen. Denn deren Energie spricht von Freiheit und Glück und Selbstbewusstsein, mit womöglich auch gesellschaftlich unabsehbaren Folgen.

Ein einziger Schrei nach Freiheit

Ein bisschen kürzer als die Foltersequenz ist, in warmes Licht getaucht, die zarte Bettszene zwischen Farah und Borhène (Montassar Ayari), der in ihrer Band die arabische Laute spielt. Eine Sekunde lang, Farah deckt morgens spielerisch das Laken auf, ist sogar sein Geschlecht im Bild; diese Sekunde hat Leyla Bouzid – „eine schwere Entscheidung“ – aus der tunesischen Version ihres Films entfernt, um den Start in sieben der insgesamt 14 Kinos des Landes nicht zu gefährden. 55000 Tunesier haben ihr Debüt dort inzwischen gesehen, längst kursieren Raubkopien im arabischen Raum, außerdem hat jemand die Originalfassung auf Youtube hochgeladen. Darin allerdings, berichtet die 32-Jährige entschieden verwundert beim Gespräch in Berlin, fehlt nun sogar die komplette Liebesszene.

Irgendwie passt das alles zusammen, der Mut und die Wut, und der Ärger über die eigene Vorsicht auch: „Kaum öffne ich die Augen“ ist ein einziger Schrei nach Freiheit, umwerfend frisch verkörpert durch die 18-jährige Schauspieldebütantin Baya Medhaffer: Farah singt die melancholisch-drängenden Lieder über das „Land aus Staub“, dessen Bewohner sich in Lebensgefahr übers Meer davonmachen, sie singt an gegen den Stillstand, gegen das fortwährende Augenverschließen und die Hoffnungslosigkeit. Medizin studieren soll sie nach dem Willen ihrer Mutter – der Vater arbeitet fern in den Phosphatminen –, aber Farah will singen, lieben, in Kneipen Bier trinken, nachts lange wegbleiben und mit ihrer Band durch die bald auch größeren Lokale tingeln. Aber die Geheimpolizei unter dem Diktator Ben Ali ist überall, und eines Tages ist Farah verschwunden.

Bleierne Jahre nach dem Arabischen Frühling

Verdammt unübersichtlich sind die Verhältnisse in Tunesien auch heute, in den bleiernen Jahren nach dem Arabischen Frühling, findet Leyla Bouzid, die seit ihrem Studium an der Fémis-Filmhochschule überwiegend in Paris lebt. So ist noch immer ein seit 1992 gültiges Gesetz nicht abgeschafft, wonach der Konsum von Cannabis, per Urintest auch nach Wochen nachweisbar, mit einem Jahr Haft bestraft wird – auch Farahs Folterer drohen ihr offen damit. 7000 meist junge Tunesier sitzen deshalb derzeit in überfüllten Gefängnissen ein. „Die kommen mit einem kaputten Leben raus“, sagt Leyla Bouzid, und manche schließen sich, wie der bekannte Rapper Emino, den IS-Terroristen an. „Der schickt aus Syrien schlimme gewalttätige Videos.“

Chronistin des arabischen Winters: Die tunesische Regisseurin Leyla Bouzid.
Chronistin des arabischen Winters: Die tunesische Regisseurin Leyla Bouzid.
© Verleih Kairosfilm

Andererseits gibt es jetzt tunesische Medien, vor allem freie Radiostationen, die offen über Missstände debattieren. Auch Homosexualität, noch immer mit drei Jahren Gefängnis bedroht, wird zum Thema der sich formenden Zivilgesellschaft, sagt Bouzid. „Da werden zwar immer wieder auch schreckliche Sachen gesagt, aber das kommt nun wenigstens aufs Tapet.“ Und sie freut sich, dass neuerdings endlich für jeden Festgenommenen das Recht auf einen Anwalt gesetzlich festgeschrieben ist – zumal die nach wie vor als unberechenbar geltende Polizei sich immer wieder Freiheiten herausnimmt, etwa „wenn sie Frauen belästigt, die im Badeanzug am Strand liegen oder Shorts tragen in der Stadt“.

Womit wir wieder bei Farah wären. In jenem Spätherbst der Diktatur wirkt die junge Frau nahezu gebrochen nach der von der Mutter erstrittenen Freilassung, und es ist die Mutter (fein und streng: die Sängerin Ghalia Benali), die sie in einer anrührenden Szene wieder zum Singen ermuntert. Sie geht den weitesten Weg in „Kaum öffne ich die Augen“ – von der privat repressiven Stellvertreterin der Gesellschaft, die das Rebellische in sich selber bitter begraben hat, zur stillen, entschiedenen Kämpferin. Sie bricht auf, mit der Tochter, ins Offenere; steht für das Gefühl, das bald darauf das ganze Land erfasst.

Und wo sehen Sie, Leyla Bouzid, Ihre Farah heute, sechs Jahre später? Kurzes Zögern. „Ich hoffe, es geht ihr gut.“

In Berlin in den Kinos Eiszeit und Hackesche Höfe (jeweils OmU)

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