„Hundesöhne“ am Maxim Gorki Theater: Prügelrituale
Blutleer: Nurkan Erpulats „Hundesöhne“ am Maxim Gorki Theater ist eine recht brave Adaption von Ágota Kristófs Romanen.
In Unterwäsche stehen die Schauspieler zu Beginn an der Rampe des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der Schlamm, der die Klamotten im Laufe des Abends symbolschwer verkrusten wird, steht zwar schon bereit. Aber Regisseur Nurkan Erpulat lässt sich trotzdem Zeit, bis sich aus dem lichten, unschuldigen Feinripp-Kollektiv düstere Figuren herausschälen.
Çizdem Teke mutiert mit Kopftuch und Maxi-Raffrock zur Bilderbuch-Babuschka. Loris Kubeng und Linda Vaher werfen sich die Leibchen der Zwillingsbrüder Lucas und Claus über. Und auch sonst geht es ziemlich illustrativ zu in dem satten Dreieinhalbstünder „Hundesöhne“, den Erpulat als eine Art Universalerzählung über Gewalt, Vertreibung und Entwurzelung aus Ágota Kristófs Romantrilogie „Das große Heft“, „Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“ destilliert hat.
Die in Ungarn geborene und während des Volksaufstands 1956 geflüchtete Autorin verfolgt darin ein Brüderpaar durch Krieg, Verrohung, Flucht, Diktatur. Lucas und Claus sind neun, als sie von ihrer Mutter aus der kriegszerstörten Stadt aufs Land zur Großmutter gebracht werden, wo noch keine Bomben fallen und sich genügend eierproduzierende Hühner vor der Haustür herumtreiben. Doch die Alte, die im Dorf nur „die Hexe“ genannt wird und die Enkelkinder ihrerseits als „Hundesöhne“ tituliert, ist keine Frau der übertriebenen Sentimentalitäten. Auf sich allein gestellt, klauen, betteln und kämpfen sich Claus und Lucas durch die rohe Welt.
Was ist der Bühnen-Mehrwert dieser Adaption?
Mit heftigen Prügel-, Verbrennungs- und Hautritz-Ritualen härten sie sich gegen Schmerz ab. Gelernt wird autodidaktisch: In kurzen Aufsätzen halten die Zwillinge ihre Erlebnisse fest. Zugelassen ist dabei nur, was „wahr“ ist: dichte Beschreibung; keine lyrischen Expressionen. Sofern es die eigene Existenzsicherung erlaubt, unterstützen Claus und Lucas Schwächere wie das „Hasenscharte“ genannte Mädchen, das nicht nur vom Pfarrer missbraucht wird. Verlangt das Eigeninteresse indes Opfer, schicken die Kinder ohne mit der Wimper zu zucken auch den eigenen Vater in den Tod.
Diese amoralische Überlebensbrutalität transportiert sich in Erpulats Inszenierung seltsamerweise kaum. Über weite Strecken sieht man hier eine recht brave Romanbebilderung. Es ist einer jener Adaptionsabende, bei denen sich – sofern man die Texte kennt – die Grundsatzfrage nach dem Bühnen-Mehrwert stellt. Dass das Gorki damit bei Weitem nicht allein ist – mit Kafkas „Amerika“ kam erst letzten Monat im Deutschen Theater ein ähnlich gelagerter Fall zur Premiere – macht die Sache nicht weniger zäh.
Permanenter Übertreibungsgestus
Quasi im Rotationsprinzip werden die Brüder von wechselnden Darstellern verkörpert. Dabei sorgt Bühnenbildner Moritz Müller dafür, dass sich in regelmäßigen Abständen große Papierbahnen vom Schnürboden entrollen. Mit der Schlammfarbe, die im Laufe des Abends die hellen Klamotten verkrustet, werden dort auch Kulissen skizziert, wieder heruntergerissen, verworfen und neu kreiert.
Nach der Pause versucht Erpulat schließlich, diesen permanenten Überschreibungsgestus zu einer Art Identitäts- und Subjektreflexion zu verdichten. Mittels Einheitsklamotten und -choreografien tanzt man den Ichverlust, während sich auf einer Leinwand gleichsam stellvertretend das Gesicht des Schauspielers Falilou Seck fragmentiert. Die (blut-)leere Art, wie der Abend nun aus der plastischen Bebilderung in die effektaufwendige Abstraktion stürzt, macht ihn leider nicht zwingender.
Wieder am 26.10, 1./2.11. 19.30 Uhr
Christine Wahl
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