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Viel los auf der Gorki-Bühne. Eine Szene mit Abak Safaei-Rad, Lea Draeger, Hanh Mai Thi Tran.
© Ute Langkafel/Maifoto

Oliver Frljic inszeniert am Gorki Theater: Proletarierinnen aller Bühnen, vereinigt euch!

Tolstoi trifft Dostojewski: „Anna Karenina oder Arme Leute“ im Maxim Gorki Theater beginnt konventionell. Der Bruch kommt spät, ist dafür aber originell.

Der Regisseur Oliver Frljic hat sich ja schon alles Mögliche einfallen lassen, um das Publikum aus seiner kuscheligen Betrachter-Ecke herauszuholen. Auf der Bühne des Münchner Residenztheaters ließ er so lebensecht Waterboarding praktizieren, dass Zuschauer auf die Bühne rannten und einschritten. Auch die Inszenierung „Unsere Gewalt und eure Gewalt“ 2016 in Wien, in der eine Schauspielerin auf eine kanonische feministische Performance rekurrierte und die österreichische Nationalflagge aus ihrer Vagina zog, ist unvergessen.

Womit der 1976 im bosnischen Travnik geborene Regisseur bisher allerdings noch nicht provozierte, ist biederes Konventionstheater in historisierenden Kostümen. Insofern dürfen zumindest die ersten beiden Stunden seiner neuen Arbeit am Berliner Maxim Gorki Theater als handfeste Überraschung gelten. In „Anna Karenina oder Arme Leute“ leidet die russische Oberschicht bis zur Pause derart stereotyp in Goldanzügen und Spitzenroben an ihrem (Liebes-)Leben, als wolle sie noch den plattesten Historienschinken ausstechen. Während sich das ausgehungerte Prekariat im Sackkleid über die Weißbrote hermacht, mit denen Bühnenbildner Igor Pauška zeitweise den Bühnenboden übersät.

Frljic spannt Lew Tolstois Roman um die unglücklich verheiratete Anna Karenina, die am Ende Suizid begeht, mit „Arme Leute“ zusammen, dem ersten Roman Fjodor Dostojewskis. Auch hier wird eine Liebesgeschichte ohne Happy End erzählt, nur eben vom unteren Ende der Gesellschaftspyramide. Die Näherin Warwara und der Kopist Makar, die in einem St. Petersburger Armenviertel leben und in engem Briefkontakt stehen, können nicht zusammenkommen, weil Warwara aus existenzieller Not lieber eine Versorgungsehe mit dem reichen Witwer Bykow eingeht.

1200 Seiten in drei Stunden

Im Gorki dominiert das Sujet der Ökonomie nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Abends. Tausend Seiten Tolstoi plus zweihundert Dostojewski in insgesamt drei Stunden: Das erfordert Effizienz, da ist keine Zeit für Zwischentöne, da müssen Handlungen eher grobmaschig verstrickt und eineindeutige Darstellungsentscheidungen getroffen werden. Lea Draeger wählt als Anna Karenina ein durchgängiges Pathos-Timbre mit leicht angeschrägtem Nöl-Einschlag. Till Wonka konzentriert sich als ungeliebter Gatte Karenin darauf, die empathiefreie „Maschine“ adäquat über die Rampe zu transportieren, als die seine Frau ihn wiederholt bezeichnet.

Und Taner Sahintürk kapriziert sich als Geliebter Wronski eben aufs Gegenteil, während er – wie die übrigen Kolleginnen und Kollegen auch – vorzugsweise auf einer Lore in Richtung Rampe gefahren wird. Eisenbahnschienen bilden das zentrale Bühnenbildelement; schließlich ist Anna Kareninas Schicksal eng mit dem besagten Transportgewerbe verbunden. Ihre erste Begegnung mit Wronski findet auf einem Moskauer Bahnhof statt. Und unter den Rädern einer Eisenbahn beendet sie letztlich bei Tolstoi ihr Leben.

Nicht so allerdings bei Oliver Frljic. Der Bruch in der braven Inszenierung kommt spät, dafür aber auch auf besonders abwegige Weise originell. Nämlich im Retro-Modus einer realsozialistischen Schulstunde. Bevor Anna Karenina zum Suizid schreiten kann, steigt die von Anastasia Gubareva mit Verve und Power gespielte Proletarierin Warwara aus der Handlung aus. Sie outet sich als marxistische Klassenkämpferin und kanzelt vor einem riesigen Lenin-Konterfei nicht nur die (soeben zwei Stunden durchsessene) „bürgerliche Kultur“ als überholt ab. Sondern vor allem erklärt sie die sozialistische Revolution gleichsam für unvollendet. Profitiert hätten lediglich die Genossen, nicht aber die Genossinnen.

Vereinigung zu Gatten-Erschießungskommandos

Und weil die feministische Revolution, die Warwara nunmehr anzettelt, nicht wenige Opfer fordert, ist in der letzten Stunde immerhin viel los auf der Gorki- Bühne: Revolutionstrash statt Historienschinken. Die Reifrock-Oberschichtlerinnen, die sich zunächst zu Gatten-Erschießungskommandos formieren, werden nach getaner Arbeit als Co-Ausbeuterinnen selbst hingemetzelt. Wobei sie definitiv schöner sterben als ihre Männer, die im Angesicht des Todes zu jenen Jammerlappen in Feinrippunterhosen mutieren, die inzwischen auf Theaterbühnen offenbar unvermeidlich sind.

Final erschießt Gubarewas Warwara noch schnell den Versorgungsehegatten Bykow, durchstößt mit maximaler Zerfetzungsenergie ein Putin-Plakat, das das Lenin-Konterfei mittlerweile ersetzt hat, und steht zum Schluss, der Zukunft zugewandt, allein auf dem Szenario: Proletarierinnen aller Bühnen, vereinigt euch! Voilà! Wieder am 20., 27. und 29. September.

Christine Wahl

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