„Superhelden“ von Dietmar Dath: Prall gefüllte Sprechblasen
Romanautor und Feuilleton-Redakteur Dietmar Dath kreist in seinem Reclam-Heftchen „Superhelden“ wortreich um ein Genre, ohne Neues darüber zu sagen.
Gleich im ersten Satz seines Erklärheftchens „Superhelden“ erteilt Dietmar Dath „küchenpsychologischen Klischees“ eine Absage, er hält sich aber nicht daran. Viel Küchen- und Tiefenpsychologisches liest man hier und viel Klischeehaftes, vom „Subjekt-Selbstempfinden moderner Menschen allgemein“, vom angeblichen Schulhof-Beef Hulk gegen Thor (inzwischen gibt es wohl mehr nostalgische Reminiszenzen daran als Schulhöfe, auf denen der Streit tatsächlich stattgefunden hat), sogar vom noch viel angeblicheren „Martin Luther King jr. und Malcolm X“-Verhältnis von Professor X zu Magneto.
Dabei wäre schon Einiges zu reflektieren über Superhelden: dass sie lange von weißen Jungs für weiße Jungs gemacht worden sind, was sich erst neuerdings und kein bisschen geräuschlos zu ändern beginnt; dass ihnen bis heute trotz vermeintlich unbegrenzter Möglichkeiten vor allem brutale Gewalt als Mittel zur Konfliktbewältigung einfällt; auch das große Unbehagen angesichts des Umgangs der Konzerne Marvel und DC mit denen, deren schöpferische Arbeit einst die Fundamente legte für das Klingeln in der Kinokasse.
Aber Dath reflektiert kaum. Stattdessen wirft der fleißige Romancier und Redakteur des Feuilletons der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Binsenweisheiten wie eben den Vergleich mit King und Malcolm X in den Raum, ohne weiter darauf einzugehen. Was erstens langweilig zu lesen ist und zweitens Geschichtsklitterung. Solche Vergleiche seien beleidigend, schreibt etwa der Blogger Jehanzeb Dar in seiner Analyse. „Sie reproduzieren eine vulgarisierte und gefährliche Polarität zwischen Malcolm X und Martin Luther King jr., die den einen dämonisiert und den anderen entradikalisiert und vereinnahmt.“
Gedankenloser Umgang mit schwarzer Identität
Und selbst, wenn die Philosophien der Figuren mit denen der beiden schwarzen Bürgerrechtler vergleichbar wären, so Jehanzeb Dar, handele es sich bei dem Vergleich immer noch um eine rassistische Aneignung. Denn bis auf wenige Figuren wie Storm oder Thunderbird seien Professor X, Magneto und die X-Men eben keine People of Color, sondern weiß, und damit denkbar ungeeignet für derartige Analogien.
Ähnlich unbekümmert philosophiert Dath über Marvels „Civil War“-Serie und verortet den Ursprung Iron Mans unter anderem beim mythischen schwarzen Volkshelden John Henry. Die Problematik, eine afro-amerikanische Galionsfigur der Malocher und Bürgerrechtler ausgerechnet mit dem ultraprivilegierten weißen Kapitalisten Tony Stark zu identifizieren, dessen Erfinder einst von Marvel um ihre Urheberrechte erleichtert wurden, entgeht Dath, wie auch die Tatsache, dass der amerikanische Bürgerkrieg, von welchem „Civil War“ seinen Titel bezieht, die Beendigung der Sklaverei zum Gegenstand hatte.
Nun muss solche Diskurse nicht zwingend führen, wer über Superhelden schreiben will. Aber irreführende Klischees als Stichwörter in den Raum zu werfen, ohne sich weiter um sie zu scheren, geschweige denn sie zu hinterfragen, ist sicher die schlechteste Lösung. In einer Zeit, in der die Auseinandersetzung um den institutionellen und offenen Rassismus der amerikanischen Gesellschaft täglich befeuert wird durch neue Zwischenfälle, irritiert diese Gedankenlosigkeit im Umgang mit schwarzer Identität.
Von „Autorenhirnen“ und „Bleistiftleuten“
Der gerade im Superheldengeschäft brisanten Frage der Autorschaft nähert sich Dath ebenfalls mit großer Sorglosigkeit. Wird streng zwischen „Autoren“ und „Zeichnern“ unterschieden, als gehörten letztere bei Comics nicht qua Bleistift zu ersteren, ist das oft einer Unschärfe der deutschen Sprache geschuldet. Auch wenn man sich nur umstandslos der Konvention bedient, was Dath konsequent tut, ist die Trennung im Fall der frühen Marvel-Comics von Jack Kirby und Steve Ditko aber ganz besonders falsch. Dass diese „Bleistiftleute“, wie Dath sie in strikter Abgrenzung zum offenbar exklusiv urhebenden „Autorenhirn“ nennt, auch Figuren, Handlungsstränge und Geschichten erfanden, mitunter gar noch Dialogvorschläge machten, das schreibt er nicht.
Überhaupt: Zum visuellen Aspekt des Genres legt Dath nur ein paar Lippenbekenntnisse ab. Als wäre es Zufall, dass die Superhelden ausgerechnet in Comic-Heften warteten, bis das Effektkino des 21. Jahrhunderts endlich bezugsfertig war. Dieser und viele andere Vorzüge, die das Superheldengenre auszeichnen, bleiben weitgehend unberührt.
Trostlos fällt auch die Bebilderung aus: unter Commons-Lizenzen aus dem Internet zusammengeklaubte Autoren- und Schauspielerfotos, dazu outgesourcte graue Infografiken ohne Quellenangaben. Verständlich, dass man sich bei Reclam keine Farbseiten oder teure Lizenzen für Comic-Auszüge leisten wollte, aber so versprüht das Heft leider auch visuell den Charme eines ausgedruckten Wikipedia-Artikels.
Reizvolle Exkurse
Daths Schwerpunkt bildet eine 20-seitige Klassifikation der Fantastik. Ausführlich setzt er Romantik und Science-Fantasy, Science-Fiction, Fantasy und übernatürlichen Horror, Coleridges „Aufhebung des Unglaubens“ und, ganz am Rande, Superhelden zueinander ins Verhältnis, gefolgt von einem halbherzigen historischen Abriss des Genres vom Start Supermans 1938 bis zu seinem Aufprall im Kino der Gegenwart.
Um diesen Grundlagenkomplex, der zu immerhin zwei Dritteln ein reizvoller Exkurs ist, kreisen Daths Fallstudien: Swamp Thing, Wonder Woman, Jimmy Olsen und Rick Jones, die X-Men, einige mehr. Daths Beobachtungen, etwa über das „Popstarwesen“, den „Naturzustand des Individuums“ oder das Superheldengenre als „mythopoetisches Vergrößerungsglas des Individualismus“, sind nicht uninteressant, wirken dennoch teils beliebig und unausgegoren. Wieso sie speziell für Superhelden, nicht aber für andere fantastische Genres gelten sollen, erschließt sich nicht.
Gegen Ende folgen zwei pflichtschuldig eingeschobene Absätze über Diversität und Intersektionalität, die sich aber nicht von der inhaltlichen Ebene lösen, sondern beim Einzelbeispiel „all-new, all-different“ X-Men von 1975 verharren. Die Frage, warum kaum Frauen oder People of Color Superheldengeschichten erzählen, wird gar nicht gestellt—es genügt Dath, dass die Nationalitäten der Figuren in diesem speziellen (und wie fast immer: von weißen Männern erzählten) Einzelfall plakativ bunt gemischt sind.
Seine frühe Begeisterung für die X-Men-Comics Chris Claremonts, welche eine Art persönliche Rahmenhandlung des Essays bildet, vermittelt Dath glaubhaft. Umso mehr verwundert es, wie wenig sattelfest er gerade in diesem Bereich ist, was die Fakten des „Kanons“ betrifft. Denn anders als Dath behauptet, ist Professor X keineswegs „Telekinet“; Magneto heißt nicht „Lensherr“, sondern „Lehnsherr“; und Charles Xavier fand Wolverine einst auch nicht „auf der Straße“, sondern als Agenten eines kanadischen Geheimprojekts. Aber vielleicht verschickt Reclam ja nun „No-Prizes“ an seine treuesten Fans, wenn sie solche Fehler plausibel erklären können.
Lesenswert wird es vor allem, wenn Dath sich auf seine Konzeption des Fantastischen bezieht. Der Hinweis etwa, dass es innerhalb der Entwicklung des Genres hin zu größerer Plausibilität der Figuren und Geschichten immer wieder auch bedeutende Rückschritte gegeben hat, von Supermans Flugfähigkeit bis zur mephistophelischen Annullierung der Ehe Spider-Mans, lohnt durchaus.
Wildwuchernde Checkerprosa
Ein Vergnügen ist Daths wildwuchernder Text manchmal, dank der ab und an etwas allzu streng muffenden Checkerprosa oft aber auch nicht. Schopenhauer, Hegel und Nietzsche, Wilhelm Reich mit seinem autoritären „Körperpanzer“, Karl Kraus, Diedrich Diederichsen, Doktor Doom und andere Schurken werden zitiert und genamedroppt, als gäbe es dafür Scrabble-Punkte. Namen fallen wie Soundwords, klingen gut, finden substanziell in den Weiten der Dath’schen Exegese allerdings wenig Widerhall.
Der Aufsatz ist kaum abendfüllend, dennoch schmeichelt sein schriftlicher Umfang dem inhaltlichen. Lässt sich etwas mit einem Wort sagen, nimmt Dath gerne fünf. Das Ding aus dem Sumpf „modelliert seinen Geist“ nicht bloß nach einer „verlöschenden“ Menschenseele, sondern nach „den sterbenden, letzten Signalen einer verlöschenden“ solchen. Northstar darf seinen ersten Auftritt nicht kurz und bündig „in ‚X-Men 120’“ erleben, sondern vielmehr „bei den X-Men, nämlich in der Ausgabe 120 des Stammtitels“. Und die Vorwürfe des Psychologen Fredric Wertham beschäftigen nicht mal eben „den Kongress“, sondern „das Parlament, nämlich den Kongress“. (Genaugenommen war es der Senat, aber das wäre wohl zu eindeutig gewesen.)
Will Dath sagen, in der Romantik sei viel durcheinander gegangen, schreibt er einen Satz mit 90 Wörtern; und will er sagen, Superhelden haben sich im Lauf der Jahrzehnte viele andere Genres einverleibt, dann dauert das 94 Wörter. Hier und da wirkt der Text, als habe er zehn Jahre in einer Schublade gelegen und dann einigermaßen unverhofft und -redigiert doch noch den Weg in die Öffentlichkeit gefunden.
„Man hat Chris Claremont häufig vorgeworfen, er produziere zu viel Text“, schreibt Dath gegen Ende. „Sprechblasen, die so prall gefüllt waren, dass sie manche Motive auf den dazugehörigen Bildern zu erdrücken drohten, waren während seiner federführenden Zeit [...] zwar nicht die Regel, aber auch nicht so selten, wie sie da sein sollten [...].“
Dietmar Dath: Superhelden, Reclam, 100 Seiten, 10 Euro
Marc-Oliver Frisch ist freier Comic-Kritiker und -Übersetzer und hat einst am „Official Handbook of the Marvel Universe“ mitgeschrieben. Man kann ihm bei Twitter folgen.
Marc-Oliver Frisch
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