Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2014: Popskurrile Pointen
Besser Kleinkunst als gar keine Kunst: Mit einer neurotischen Liebeshumoreske gewinnt Tex Rubinowitz die 38. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
Der Bewerb, wie er auf gut Österreichisch heißt, findet in zwei parallelen Welten statt. Die eine befindet sich im Inneren des ORF-Landesstudios. Dort herrschen im Licht der Scheinwerfer Seriosität, Konzentration und stille Andacht – auch bei Texten, die es nicht verdienen. Die andere befindet sich im Garten davor, wo unter Zeltplanen Fernsehschirme hängen, vor denen eine sehr viel respektlosere Zuschauerschaft die Lesungen zum Ingeborg-Bachmann-Preis verfolgt. Hier regieren Spott, Schadenfreude, Zynismus und spontaner Unmut. Selbst wenn oben auf der Bühne gerade ein neuer Hölderlin sein heiliges Herz öffnen sollte, würde man feixen, jaulen und stöhnen und anschließend in ein faschiertes Laibchen beißen, die hiesige Bulette.
Der geschmeidige Wechsel zwischen beiden Welten gehört vielleicht zu den Grundkompetenzen zeitgenössischen Lesens: Wer die Kunst nicht ernst nimmt, darf unter missglücktem Kunsthandwerk eigentlich nicht leiden. Nur hat dies in Klagenfurt die Form einer Schizophrenie angenommen, die längst im Inneren der Literatur angekommen ist. Die falsche Ehrfurcht, die vor allem am Eröffnungsabend aus den Worten der Kärntner Honoratioren spricht, die hinter jedem Schriftsteller einen Sprachvisionär, Existenzdurchdringer und Gesellschaftskritiker wähnen, korrespondiert mit dem prätentiösen Kunstwillen vieler Autoren – und beides wiederum mit einer Tendenz zur grundsätzlichen Ironisierung.
Sie wird exemplarisch durch den Preis der Automatischen Literaturkritik verkörpert, den die Mitarbeiter des Blogs riesenmaschine.de im Rahmen eines Crowdfunding-Projekts vergeben. Das Ganze ist tatsächlich ein intelligenter Spaß, der absurd textfremde Kriterien anlegt und den hermeneutischen Overkill so mancher Jurydiskussion unter dem letztmaligen Vorsitz von Burkhard Spinnen karikiert. Insofern ist der Preis – wie seine Mitinitiatorin Kathrin Passig, die 2006 mit einem Stück raffiniert kalkulierten, interpretationsmundgerecht aufbereiteten Metapherngestöbers den Bachmann-Preis gewann – in der Zeitschrift „Volltext“ erklärt, „überwiegend ernst gemeint“.
Doch gibt es nichts dazwischen? Könnte die Jury aus so mancher Bedeutungshuberei nicht mit zwei, drei feinen Nadelstichen die Luft herauslassen und zum nächsten Text übergehen? Müsste sie, trotz aller Dankbarkeit für eine neurotische Liebeshumoreske und Studentengroteske wie die von Tex Rubinowitz, die glatt den mit 25 000 Euro dotierten Bachmann-Preis erhielt, nicht mit dem stilkritischen Feinbesteck herauspräparieren, dass seine popskurrilen Pointen in mehr als ungelenken Sätzen stecken, in denen sich der Autor schon beim Vorlesen verhedderte? Wie viel besser könnte diese angeblich absichtsvoll kunstlose Prosa sein, wenn die sexscheue, im Wien der 80er Jahre Koreanisch lernende Litauerin Irma ihre Widerborstigkeiten gegenüber ihrem darbenden Liebhaber in rhythmisch übersichtlicheren Sätzen ausleben könnte. Die 38. Tage der deutschsprachigen Literatur, darüber herrschte Einigkeit, waren jedenfalls ein besonders schwacher Jahrgang, und es hätte gute Gründe gegeben, ein Preis-Moratorium zu verhängen. Dies aber wäre im Jahr eins nach der drohenden Einstellung des gesamten Wettlesens ein unmögliches Zeichen gewesen – und ist obendrein gegen die Statuten. Außerdem hätten sich die sieben Juroren, die ihre Autoren selber benennen und manchmal wider alle Vernunft verteidigen, eines leisen Versagens bezichtigen müssen.
Die Jury war so uneins, sie hätte auch würfeln können.
Bei der Abstimmung war die Jury anfangs so zerfallen, dass man die Preisträger gleich hätte auswürfeln können. Wenigstens vor dem Appell, sich an die eigene Nase zu fassen, sollte man die Jury aber künftig bewahren und ihr eine Urteilsautonomie zurückerstatten, in der Wohlwollen und Polemik ohne Rücksicht auf eigene Interessen möglich sind. Eine unabhängige Auswahlkommission würde Abhilfe schaffen.
Das Fernsehformat tut ein Übriges, dass Texte, deren Schwächen schnell zu erklären wären, in aller Ausführlichkeit verhandelt werden. Was gab es nicht alles, dass sich schon thematisch so schwer und aufdringlich machte, dass Sprache oder Erzählperspektive darunter kollabierten. Der Österreicher Roman Marchel ließ eine alte Frau ihren krebskranken Ehemann mit dem Kopfkissen ersticken. Eine Klimax, auf die er sich in komplexer Figurenrede zubewegt, die auch die Tochter einschließt und zwischendurch doch immer wieder den Autor Bilanz ziehen lässt: „Es ist nämlich nicht leicht, das Leben.“
Birgit Pölzl schickte eine Mutter zur Trauerarbeit ins wüstenhafte Tibet. Tochter Maia, die der Vater überfahren hat, begleitet sie als Schatten auf Schritt und Tritt. Georg Petz inszenierte in der Normandie, aufgeladen und überladen von Kriegserinnerungen, ein deutsch-französisches Wettschwimmen zwischen zwei Männern mit fast tödlichem Ausgang. In seiner Gezwungenheit sehr viel bezwingender und vor allem sprachlich makellos gearbeitet Kerstin Preiwuss’ gewaltsatte Erzählung aus der DDR, in der ein traumatisierter Kriegsvater eine Nerzzucht betreibt, bei der er die Tiere entweder elektrisch oder per Gas zu Tod befördert. Jagd, Menschenhatz und Tierausbeutung werden hier in einen Schicksalszusammengang gebracht, der Natur- und Menschengeschichte in eins setzt.
Der Tiefpunkt schien mit Anne-Kathrin Heiers kraftlos ausgedachter Berlin-Nachtmahr „Ichthys“ gekommen, ein Süchte und Rauschgifte bildschief beschwörender Gesang, dem man sein behauptetes Delirium keine Sekunde lang abnimmt. Diesen Text, wie es der dauerbeleidigt wirkende Wiener Juror Arno Dusini versuchte, in eine Tradition einzusortieren, die mal wieder Charles Baudelaire („Die künstlichen Paradiese“) und Walter Benjamin („Haschisch in Marseille“) bemüht, ist einerseits die Standardreferenz des Literaturwissenschaftlers. Daraus andererseits aber nicht zugleich einen Anspruch an eine vergleichbare Präzision und poetische Vision abzuleiten, zeigte exemplarisch, dass das Beharren auf einem literarischen Gedächtnis nicht notwendig mit Urteilssicherheit einhergeht.
Es zeigt aber auch, dass Schreiben ohne ein solches historisches Bewusstsein von vornherein verloren ist. Gute Literatur spielt sich immer ab im Spannungsfeld von anxiety of influence, einer Einflussangst, die Harold Bloom zufolge den starken Schriftsteller auszeichnet, und einer ecstasy of influence, die für Jonathan Lethem ebenso entscheidend ist.
Mit der Schweizerin Romana Ganzoni ging es dann doch noch einmal steiler bergab – und zwar ausgerechnet hinauf auf einen Bergpass, auf dem die Protagonistin Bruna, mit ihrem Suzuki Ignis Cool benzinlos gestrandet, schwerste Mutterermordungsfantasien ausspinnt. Ganzoni war pikanterweise die Kandidatin von Hildegard Keller, die Anne-Kathrin Heiers Lesung zuvor noch mit den Worte kommentiert hatte, dass ihr völlig unverständlich sei, wie ein solcher Text zu einem Wettbewerb zugelassen werden könne.
Dann lieber Kleinkunst. Sie ist jedenfalls besser als gar keine Kunst. Die Berliner Theaterautorin Katharina Gericke (Ernst-Willner-Preis) stellte mit „Down Down Down To The Queen Of Chinatown“ eine aufreizend rhythmisierte Moabiter Moritat mit Refrain über die Liebe vor, in der Aida auf Amanda Lear trifft: die Oper im Kiez um die Ecke, kombiniert mit dem Höllenhund aus Dantes „Göttlicher Komödie“. In ihrem Wiener Trotz bemerkenswert auch Gertraud Klemms Suada einer alles Kreatürliche in ihrer Bulthaupt-Küche verabscheuenden Mutter, die sich in einem Akt von zwischendurch satirisch aufgehellter Selbstkasteiung zu einem zweiten Kind entschließt (Publikumspreis). Und als Performance eindrucksvoll Michael Fehrs prononciert langsam, überartikuliert vorgetragenes Prosapoem „Simeliberg“, das in die finsterste Schweizer Dorfwelt hineinführt (Kelag-Preis und Preis der Automatischen Literaturkritik).
„Vor der Zunahme der Zeichen“, der zugleich ehrgeizigste und steifste Text, eine platonische Facebook-Konversation zwischen Elena, einer kosovoalbanischen Immigrantin, und Senthil, einem tamilischen Immigranten, die beide in Deutschland Asyl finden, stammte von Senthuran Varatharajah (3sat-Preis), einem 1984 in Jaffna, Sri Lanka, geborenen Tamilen, der in Berlin Philosophie, evangelische Theologie und Kulturwissenschaft studiert hat. Die geisteswissenschaftliche Prägung findet in Gestalt zahlloser philosophischer Zitate und Anspielungen Eingang, die Varatharajah den Vorwurf bescherten, er habe Deutsch bei Hegel gelernt. Die Bekenntnisse, die in ihrer Geschliffenheit so nur nie auf Facebook zu finden wären, fügen sich zu einer Prosa, die die Schrecken der eigenen Herkunft mit einem europäisierten Blick zu bändigen versucht.
Sonst war das Sommerglück am Wörthersee fast perfekt. Helene Hegemann wanderte mit einem aufgeblasenen grünen Krokodil herum, und wenn sich der eine oder andere schon nach der letzten Lesung „Nie wieder Bachmann-Bewerb!“ geschworen hatte, so stellte spätestens die Farce der diesjährigen Preisvergabe die Stimmung schon wieder so weit her, dass man sich frohgemut zurufen konnte: „Nächstes Jahr: Klagenfurt!“
Mehr unter www.bachmannpreis.eu und www.pingeb.org
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