Bilanz zur Berlinale: Politisch wie immer - aber auffallend poetisch
Die Literatur war der Star: Intensiv wie nie wurde bei der 66. Berlinale vor der Kamera aus Gedichten, Briefen, Romanen zitiert. Eine erste Bilanz des Festivals.
Die Berlinale ist traditionell das politischste unter den drei größten Filmfestivals. Sagt man so, stolz nach draußen hin. Und meinte damit halblaut oft, dass die Berliner, anders als die Cannesiner und die Venezianer, bei der Auswahl mehr auf die weltverbesserungsbedürftigen Themen als auf die künstlerische Qualität der Beiträge schauen.
Letztes Jahr allerdings war von diesem Raunen zum Festivalende nichts zu vernehmen: Der Siegerfilm des in Iran mit Berufsverbot bedachten Jafar Panahi war eminent politisch. Zugleich ist „Taxi“ ein kluger, heiterer, ernster, formal außergewöhnlicher, kurzum: grandioser Film.
An Bären-Aspiranten mit dem offiziösen Etikett „politisch wertvoll“ fehlte es auch diesmal nicht. Das postrevolutionär ernüchterte Tunesien („Hedi“) präsentierte sich ebenso wie das durch seine neueste Nachkriegszeit taumelnde Bosnien („Death in Sarajevo“), und auch Iran war mit einem surrealen Zeitgeschichtsthriller („A Dragon Arrives!“) mit von der Partie.
Als oberster Anwärter auf außerfilmisches Erschütterungspotential meldete sich Gianfranco Rosi mit seiner Lampedusa-Langzeit-Dokumentation „Fuocoammare“ zu Wort und Bild, Anführer zugleich einer beträchtlichen Reihe von Beiträgen zum seit Monaten alles überstrahlenden Flüchtlingsnachrichtenthema.
Publikumslieblinge - geschickt am Anfang und Ende platziert
Auffallend dabei: Das Publikum schien gerade diese Filme eher zu meiden. Am Freitagabend etwa blinkten an den Vorverkaufsständen, die in den Ampelfarben die jeweilige Kartenverfügbarkeit anzeigen, nur noch wenige Titel in Grün – darunter die vielgerühmten Forumsfilme „Les sauteurs“ und „Havarie“. Ablenkung ist angesagt, und die entsprechend stargespickten Zuschauerlieblinge platzierte die Festivaldramaturgie geschickt am Anfang und am Ende. Unmöglich, bei „Hail, Caesar!“ der Coen-Brüder nicht zumindest zeitweise amüsiert – und noch unmöglicher, vom köstlichen Klamauk „Saint Amour“ nicht begeistert zu sein.
Abseits solch spektakulärer Elemente aber dürfte die 66. Ausgabe des Festivals sich aus ganz anderen Gründen ins Gedächtnis schreiben – nicht als politische oder populistische, sondern als poetische Berlinale. Intensiv wie nie wurde vor der Kamera aus Gedichten, Briefen, Romanen zitiert, war die Literatur – abseits der üblichen Literaturverfilmung, etwa „Jeder stirbt für sich allein“ (Hans Fallada) bis zu „Während die Frauen schlafen“ (Javier Marías) selber das Thema. Oder besser: der Star.
Lust auf Bücher, notierte Geschichten
Schon merkwürdig: Da sitzen die wegen der bewegten Bilder aus aller Welt zum Festival strömenden Besucher zu Tausenden vor den Riesenbildschirmen und schauen auf Figuren, die sich am geschriebenen Wort ergötzen. Ob es, wie in Ruth Beckermanns „Die Geträumten“, die von zwei jungen Radiosprechern gelesenen Briefe zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann sind – oder die Liebesbriefe, die der später als Romancier berühmt gewordene António Lobo Antunes in seinen angolanischen Militärarztjahren an seine Frau schrieb, um mit einem Bollwerk aus Buchstaben den schrecklichen Schwachsinn des Kriegs zu bannen (in „Cartas da guerra“ von Ivo M. Ferreira): Die auf der Leinwand zelebrierte pure Lust am Wort machte sofort Lust auf Bücher, auf notierte Geschichten, auf eigenes Assoziationsmaterial und die eigene Fantasie.
Das Poetische geht ins Pathetische über
Und erst die Gedichte! Nicola Ljucas Debüt „Vlažnost / Humidity“ stürzt sich ohne Anlauf in die Poesie und lässt zwei Liebende einander nach dem Sex die Verse des serbischen Dichters Ivan V. Lalić ins Ohr raunen: „Nie tiefer allein als am Ende des Juli / Mit dem Sommerzenit nur eine Handspanne entfernt / Aber das Chlorophyll nur eine Armbreite vom Niedergang / Metastasierend in Gelb und Braun“. Wen stört es auch, dass das Poetische, sofern schön gesagt, mitunter ins Pathetische übergeht?
Und was ist gegen Lav Diaz’ ohnehin ganzheitlich hochpoetisches und zuweilen hochpathetisches Achtstunden-Epos „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ einzuwenden, wenn in dieser philippinischen Revolutionselegie jenes Abschiedsgedicht rezitiert wird, das der Nationalheld José Rizal in der Nacht vor seiner Hinrichtung am 30. Dezember 1896 schrieb? Immer ist es die Sprache zuerst, die auch die entlegenste Vergangenheit ins Unmittelbare verwandelt.
Diese Begeisterung der Filmemacher für das geschriebene Wort – jenseits von Treatments und Drehbüchern – kann kein Zufall sein. Vielleicht auch spiegelt sie nur die Alltagserfahrung der längst global dienstlich überwiegend vor Bildschirmen sitzenden Menschheit, die immer zuerst Zeichen sieht – und seien sie so abstrakt wie in Alex Gibneys „Zero Days“. Und auch im Privaten: Nicht nur das Skypen, also ein zumindest filmaffines Element, hat das Telefonieren abgelöst, sondern auch die SMS, der Chat, das handytaugliche Zwei-Daumen-Kommunikationssystem, in dem sich der User nicht nur technisch, sondern auch schriftsprachlich perfektioniert, wenn er seine Ziele erreichen will.
Schon möglich, dass Filmfestivals aussterben
Um es nachgerade biblisch zu sagen: Im Anfang war das Wort, und am Ende bleibt vielleicht nur es. Schon möglich, dass Filmfestivals – analoges Gemeinschaftserlebnis hin oder her – in zehn oder zwanzig Jahren aussterben, weil ohnehin jedes bewegte Bild jederzeit überall privat verfügbar ist. Aber einen Gedanken loskritzeln, der Wünschelrute der Wörter folgen, aus denen eine Geschichte werden kann: Dieses unsterbliche Bedürfnis hat diese Berlinale auf ihre Weise gefeiert.
Wie sagt es, noch pessimistisch, Thomas Wolfe in seinem Roman „Schau heimwärts, Engel“, dessen Manuskript den New Yorker Lektor in Michael Grandages Film „Genius“ so augenblicklich fasziniert? „Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür.“