Premiere von „J’accuse“ in Venedig: Polanski vergleicht sich mit dem unschuldig verurteilten Dreyfus
MeToo in Venedig: Dass Roman Polanski mit „J’accuse“ um den Goldenen Löwen konkurriert, wirft kein gutes Licht auf das Festival.
Es gehört zur Geschäftspolitik eines Festivalleiters, bestimmte Filme einzuladen, um ein paar prominente Namen mehr über den roten Teppich zu schicken. Venedig-Chef Alberto Barbera hat die Regel dieses Jahr umgedreht. Roman Polanskis neuer Film „J’accuse“ („An Officer and a Spy“) läuft im Wettbewerb, gerade weil sein Regisseur durch Abwesenheit glänzt. Anders denn als pure Provokation lässt sich die Einladung kaum deuten, nicht einmal wenn man wie Barbera den umstrittenen Polanski für einen modernen Caravaggio hält.
Zu Beginn der Festspiele wurde noch einmal kräftig Öl ins Feuer gegossen. Jurypräsidentin Lucrecia Martel sagte am Mittwoch ihre Teilnahme am Galadinner ab, hat sich aber mit der Entscheidung abgefunden, dass der französisch-polnische Regisseur, dem bei Auslieferung in die USA eine Anklage wegen Vergewaltigung droht, um den Goldenen Löwen konkurriert. Polanski dagegen legt am Tag der Premiere in einem Interview mit dem französischen Schriftsteller Pascal Bruckner seine Sicht der Dinge dar: zu seinem Film über die Dreyfus-Affäre und den „neofeministischen McCarthyismus“ (Zitat Bruckner), dem sich der 85-Jährige ausgesetzt sieht.
Künstlerisch gibt es an „J’accuse“ – der Titel stammt aus dem Protestbrief Emile Zolas gegen das Dreyfus-Urteil, der ihn zur Flucht aus Frankreich zwang – nicht viel auszusetzen. Außer vielleicht seine biedere Kulissenschieberei, die eher an Großväterchens Kino erinnert. Nur macht Polanski es selbst ihm Wohlgesonnenen nicht gerade leicht, wenn er sich mit dem unschuldig verurteilten Dreyfus gleichsetzt. Der Unterschied besteht schlichtweg darin, dass Dreyfus Opfer einer antisemitischen Verschwörung wurde, während Polanski seine Tat bereits vor 40 Jahren gestanden hat. „Technisch gesehen ist er frei“, sagt am Ende der von Jean Dujardin gespielte Picquart in der Rolle des Chefermittlers. „Aber er wird immer als Schuldiger betrachtet werden.“ Der Satz ist in jeder Hinsicht anmaßend. Am Dreyfus-Skandal wäre die französische Republik Ende des 19. Jahrhunderts fast zerbrochen. Über Polanski hat die Geschichte das Urteil bereits gefällt.
Das Barbera sich derart instrumentalisieren lässt, um Polanski zu exkulpieren, wirft kein gutes Licht auf das Festival. Ohne die störenden Nebengeräusche wäre „J’accuse“ ein gediegener historischer Politthriller, in dem der vorsintflutlichen Forensik (Rekonstruktion von Briefschnipseln, Grafologie, Lauschangriff mit dem Stethoskop) eine schöne Schlüsselrolle zukommt. Doch es liegt an Polanski selbst, dass man immer weniger zwischen Mensch und Künstler trennen möchte.