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Juliette Binoche (l), Hirokazu Koreeda und Catherine Deneuve (r) bei der Premiere von „La verité“.
© Joel C Ryan/Invision/AP/dpa

Lieben und lästern am Lido: Die subtile Komödie „La verité“ eröffnet Filmfestspiele von Venedig

Ein japanischer Film, ein sturer Festivalleiter – und wieder einmal viel zu wenig Frauen im Wettbewerb. Zur Eröffnung der 76. Filmfestspiele von Venedig.

Filmdiven können gnadenlos sein. Sagt die eine: „Mein Mann ist ein besserer Liebhaber als Schauspieler.“ Die andere entgegnet: „Hast du ein Glück, meiner ist ein besserer Koch als Liebhaber.“ Zu hören gibt es den Dialog, der die hohe Kunst der tiefen Schläge meisterlich beherrscht, zwischen Catherine Deneuve und Juliette Binoche in Hirokazu Kore- edas „La verité“ („The Truth“), mit dem das Filmfestival Venedig am Mittwochabend seine 76. Ausgabe eröffnete. Für den Gewinner der Goldenen Palme von 2018 ist es die erste internationale Produktion, gedreht in französischer Sprache. Auch Ethan Hawke, der den amerikanischen Ehemann von Binoche spielt, blickt die meiste Zeit verständnislos drein. Er ahnt, dass seine Schwiegermutter nicht viel von ihm hält – ganz sicher nicht als Schauspieler. Und sie lässt es mit maliziöser Affektiertheit in jedem Satz durchblicken.

Nach seinen stillen Gesellschaftsdramen, mit denen sich Kore-eda als stilsicherer Regisseur im internationalen Autorenkino etablierte, schlägt „La verité“ deutlich optimistischere Töne an. Auch visuell. Das französische Spätsommerlicht fällt äußerst vorteilhaft auf seine Hauptdarstellerinnen, Mutter und Tochter, die mit kultivierter Eleganz durch ihre gemeinsame Vergangenheit aus Lügen, Liebesentzug und Missverständnissen parlieren.

Deneuve spielt, wie man sie zuletzt immer öfter erlebt hat: Ihre Fabienne ist eine verbitterte, selbstherrliche Diva, die alle potentiellen Nachfolgerinnen – sowie ihre zahlreichen Männer, die noch immer um sie herumscharwenzeln – wegbeißt. Nur ihr Enkelkind dringt zu der alten Narzisstin durch. Kore-eda bewegt sich äußerst behutsam auf dem ihm ungewohnten Terrain, er wirkt eher wie ein Gastgeber, der seine Darstellerinnen einfach strahlen lässt. „La verité“ ist eine muntere, durchaus subtile Komödie aus dem schier unerschöpflichen Fundus der französischen Oberschicht, die in ihren gesellschaftlichen Konventionen genauso eingeschränkt ist wie die sozialen Außenseiter in seinen japanischen Dramen.

Warum kein US-Film zum Auftakt?

An den Starqualitäten der französischen Leading Ladies besteht kein Zweifel. Dennoch ließ die Wahl von „La verité“ aufhorchen. Festivalleiter Alberto Barbera hatte mit seinen Eröffnungsfilmen zuletzt immer wieder ein goldenes Händchen bewiesen, Venedig ebnete unter anderem „Birdman“, „Gravity“ und „La La Land“ den Weg zu den Oscars. Dass in diesem Jahr ein asiatischer Arthousefilm mit europäischen Weltstars das Festival eröffnet, wurde mancherorts schon als Indiz gesehen, dass Venedig den Konkurrenzdruck aus Nordamerika zu spüren bekommt. Machen die nahezu zeitgleich stattfindenden Filmfestivals in Telluride und Toronto dem europäischen Konkurrenten die großen US-Titel abspenstig? In diesem Jahr ging Barbera mit Martin Scorseses Netflix-Produktion „The Irishman“ der meistantizipierte Film des Jahres durch die Lappen.

Diven unter sich. Catherine Deneuve (l) und Juliette Binoche in „La verité“.
Diven unter sich. Catherine Deneuve (l) und Juliette Binoche in „La verité“.
© L.Champoussin/3B/Bunbuku/MiMovies/FR3/dpa

An Hollywood-Flair mangelt es trotzdem nicht. Regisseur James Gray hat mit seinem Sternenepos „Ad Astra“ Brad Pitt im Schlepptau, Indie-Darling Noah Baumbach bringt mit dem Scheidungsdrama „Marriage Story“ Scarlett Johansson und Adam Driver an den Lido. Kristen Stewart stellt ihr Jean-Seberg-Biopic vor, der kolumbianische Regisseur Ciro Guerra das Kolonialdrama „Waiting for the Barbarians“ mit Johnny Depp und Robert Pattinson, Penélope Cruz wird für Oliver Assayas’ Kuba-Thriller „Wasp Network“ erwartet sowie Joaquin Phoenix und Robert De Niro für Todd Phillips’ „Joker“. Die US-Branchenpresse feiert die DC-Produktion bereits als Neuerfindung des Superheldengenres. Aber die ist in Venedig naturgemäß aufgeregt, umso mehr, wenn – wie in diesem Jahr – das Wetter mitspielt. Nicht persönlich teilnehmen kann hingegen Roman Polanski, obwohl sein neuer Film „J’accuse“ über die Dreyfus-Affäre um den Goldenen Löwen konkurriert. Auf ihn wartet ein Auslieferungsverfahren.

Brad Pitt kommt nach Venedig, um seinen Film „Ad Astra“ vorzustellen.
Brad Pitt kommt nach Venedig, um seinen Film „Ad Astra“ vorzustellen.
© Ettore Ferrari/ANSA/AP/dpa

Polanski ist eine der Personalien, die Festivalleiter Barbera erneut schlechte Haltungsnoten bescheren. Die Oscar- Academy hat den Regisseur wegen der inzwischen verjährten Vergewaltigung einer Minderjährigen ausgeschlossen. Barbera hindert das aber nicht, Polanskis neuen Film einzuladen. Im Juli rechtfertigte er im Branchenblatt „Variety“ die Entscheidung damit, dass heute auch niemand den Mörder Caravaggio boykottiere. Barbera scheint damit die Ansicht zu vertreten, Frauen dürften schon froh sein, dass heute nicht mehr Umgangsformen wie im 16. Jahrhundert herrschen.

Die Jury auf dem roten Teppich. Jurypräsidentin ist Lucrecia Martel.
Die Jury auf dem roten Teppich. Jurypräsidentin ist Lucrecia Martel.
© Joel C Ryan/Invision/AP/dpa

2018 unterzeichnete Barbera erst unter Druck der dem Festival übergeordneten Biennale-Direktion die Petition „50/50 by 2020“ für mehr Gender-Parität. Doch das Bekenntnis zu Chancengleichheit und Vielfalt klingt wie eine hohle Phrase, wenn in diesem Jahr wieder nur zwei Regisseurinnen im Wettbewerb vertreten sind: Haifaa Al Mansour aus Saudi-Arabien mit „The Perfect Candidate“ und die Australierin Shannon Murphy mit ihrem Debüt „Babyteeth“. Wie aus Trotz hat Barbera dafür noch den US-Regisseur Nate Parker mit seinem Selbstjustizthriller „American Skin“ eingeladen, dessen Oscar-Ambitionen mit dem Sklavendrama „Birth of a Nation“ 2017 durch einen 20 Jahre zurückliegenden Vergewaltigungsprozess abrupt beendet wurden.

Juliette Binoche und Catherine Deneuve bei der Pressekonferenz in Venedig.
Juliette Binoche und Catherine Deneuve bei der Pressekonferenz in Venedig.
© Joel C Ryan/Invision/AP/dpa

Die Berliner Produzentin Janine Jackowiski („Toni Erdmann“) brachte die Venedig-Mentalität in einem „Variety“-Artikel vergangenes Wochenende auf den Punkt: „Hier in Europa gibt es noch immer die Vorstellung des ,Genies’, das sich alles leisten darf und dafür noch bejubelt wird.“ Das Thema wird das Festival weiter begleiten, Barbera hat es selbst auf die Agenda gesetzt: unter anderem mit einem Seminar zu „Gender-Parität“ und „Inklusion“. Doch das Vertrauen ist erschüttert.

Schaulust an der Lagune. Fans warten auf einer Balustrade in Venedig auf das Eintreffen der Stars.
Schaulust an der Lagune. Fans warten auf einer Balustrade in Venedig auf das Eintreffen der Stars.
©  dpa/Arthur Mola

Beim „Variety“-Empfang am Mittwoch verkündete die diesjährige Jury-Präsidentin Lucrecia Martel, dass man die Ungleichheit in den nächsten zwei Wochen immer wieder thematisieren werde. Dennoch ist unwahrscheinlich, dass Barbera noch einmal zur Einsicht gelangt. 2020 läuft sein Vertrag aus, er dürfte kaum verlängert werden. Barbera hat es mit seiner Carte blanche für Netflix-Produktionen (in diesem Jahr wieder drei) auch mit der italienischen Filmbranche gründlich verscherzt.

Nina Hoss spielt eine Pferdeflüsterin

Dass das Argument, es gäbe zu wenig Regisseurinnen, Quatsch ist, entkräftet die Sektion „Orizzonti“ zumindest teilweise. Die Nebenreihe wurde am Mittwoch mit dem atmosphärisch beklemmenden Mysteryhorrorfilm „Pelikanblut“ von der deutschen Regisseurin Katrin Gebbe („Tore tanzt“) eröffnet. Er hätte durchaus das Zeug für den Wettbewerb gehabt. Nina Hoss spielt eine Pferdeflüsterin, die sich gleichsam traumatisierter Tiere und Kinder annimmt. Ihre zweite Adoptivtochter, die sie in einem rumänischen Waisenhaus findet, zeigt jedoch bald gewaltsame Verhaltensauffälligkeiten, die das harmonische Familiengefüge der alleinerziehenden Frau bedroht.

Um der fünfjährigen Raya (eine wahrlich diabolische Katerina Lipovska) die bislang versagte Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, setzt die Pflegemutter ihre kleine Familie aufs Spiel – bis sich schließlich die Frage stellt, ob herkömmliche Pädagogik nicht ihre Grenzen hat. Vielleicht macht Liebesentzug Menschen schlichtweg böse. Gebbe findet auf diese Frage eine dezidiert andere Antwort als der Humanist Kore-eda. Sie plädiert für einen altmodischen Exorzismus, inklusive Pferdekopf-Totem. So kann ein Filmfestival gerne beginnen.

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