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Nach Olympia ist der Bauboom in Peking zurückgegangen. Und doch bringen nach wie vor Tausende neuer Projekte Wanderarbeiter in die Stadt.
© REUTERS/Kim Kyung-Hoon

Chinas neue Literatur: Poesie in Zeiten der Migration

In China, dem Land mit der weltgrößten Binnenmigration, sind inzwischen bis zu 270 Millionen Arbeiter fern ihrer Herkunftsprovinz unterwegs. Das hat auch eine neue Literatur mit sich gebracht.

Für deutsche Ohren ist Heimat ein zwiespältiger Begriff. Die Unschuld, mit der er nichts als die Herkunft aus einer Region umfassen kann, rivalisiert aufs Heftigste mit dem Unheimlichen, das er im 20. Jahrhundert als nationalistische Propagandaidee angenommen hat. Auch guxiang, die chinesische Entsprechung, kommt nicht ohne vaterländische Deformationen aus. Doch während Heimat, je emphatischer man von ihr zu sprechen versucht, hierzulande zur metaphysischen Idee tendiert, lebt guxiang zunächst von der Erinnerung an den physischen Ort der Kindheit – ein Umstand, der im Land der weltgrößten Binnenmigration dennoch eine besondere Sprengkraft entfaltet.

Seit 2011 liegt der Anteil der Stadtbevölkerung in China erstmals höher als derjenige der Landbevölkerung und soll in den nächsten Jahren auf über zwei Drittel steigen. Mehr noch: Mit knapp 270 Millionen Wander- und Saisonarbeitern ist trotz zurückgehenden Baubooms bis zu einem Fünftel der rund 1,37 Milliarden Chinesen oftmals fern der eigenen Heimat unterwegs, abgeschnitten von der eigenen Kultur und sogar von der eigenen Sprache. Diese Mobilität hat, auch ohne den wirtschaftlichen Druck, dem sie sich verdankt, nur nichts von moderner Freizügigkeit. Die politische Ausgestaltung hinkt den Verhältnissen hoffnunglos hinterher. Denn wer einmal ins Wohnsitz-Register, das hukou, eingetragen ist, kann sich nicht einfach ummelden. Selbst wer an einem anderen Ort auf Dauer Arbeit findet, kann dort seine Kinder nicht unbedingt zur Schule schicken oder Sozialleistungen beantragen. Ein neues hukou bringen nur gute Beziehungen oder der Schwarzmarkt.

Zeugnisse eines widersprüchlichen China

Die neue Wirklichkeit hat indes längst ihre literarischen Boten vorausgeschickt – nicht nur in Gestalt entwurzelter Bauern, die über den Verlust ihrer Scholle und das harte Los auf Baustellen und in Fabriken klagen. Über das legitime Bedürfnis hinaus, ihrem Schmerz in konzentrierter Form Ausdruck zu verleihen, hat sich ein sozialkritisch-poetisches Raffinement entwickelt, das auch Dichtern aus hermetischen Traditionen Respekt abnötigt. Yang Lian, zusammen mit dem Maler Yang Ermin Ausrichter des Artsbeijing.com International Chinese Poetry Prize, hat mit Wu Niaoniao und dessen Langgedicht „Rhapsody“ kürzlich zum wiederholten Mal einen Fließbandarbeiter ausgezeichnet, nachdem zum Start des Preises 2013 bereits der in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen schreibende und arbeitende Guo Jinniu prämiert worden war.

Für den zwischen Berlin, London und Peking lebenden Yang Lian, der mit Bei Dao aus der Generation der legendären misty poets stammt, die politischen Einordnungen immer entgehen wollte, sind Wus surreale Verse Zeugnisse eines widersprüchlichen China, das ganz neue Erfahrungen von Exil und Nomadentum heraufbeschworen hat. Mit dem ebenfalls ausgezeichneten Sun Qian gehört zu ihm ein chinesischer Muslim mit Sufi-Passionen nicht weniger als Xu Lizhi, der als 24-jähriger Märtyrer in die Geschichte der Wanderarbeiterdichtung eingehen wird. Am 30. September sprang er vom Dach seines Schlafsaals in Shenzhen, wo er beim Elektronikhersteller Foxconn gearbeitet hatte, in den Tod. Die Seite libcom.org/blog/xulizhi-foxconn-suicide-poetry erzählt, wie verzweifelt er mit seiner Situation rang und welche subtilen Gedichte ihr entsprangen.

Arbeit und Liebe - davon singt man auch in Singapur

In Singapur, wo Tausende von Bangladeschis in den Werften arbeiten, ist unter dem Motto „Poems of love & labour“ sogar gerade der erste, ausschließlich Wanderarbeitern gewidmete Lyrikwettbewerb zu Ende gegangen. Gewonnen hat ihn der 36-jährige Bauleiter Zakir Hussain Khokhon mit einem seiner Frau gewidmeten Liebesgedicht. „Pocket 2“ ist, wie man auf www.singaporeworkerpoetry.com nachlesen kann, sicher keine große Lyrik, aber es ist auf eine Weise getränkt mit Orten und Szenen aus dem heimatlichen Dhaka, dass der Verlust dieser gemeinsamen Erlebnisorte etwas unmittelbar Anrührendes bekommt. „Wir leben in der gleichen Welt, doch gehören schon zu verschiedenen Sphären“, beginnt das Gedicht, „Du auf jener Seite und ich auf dieser /wir können nichts tun, als uns aneinander zu erinnern“.

Gregor Dotzauer

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