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Lian Yang in Berlin.
© Angelika Leuchter/Wissenschaftskolleg

Begegnung mit dem chinesischen Dichter Lian Yang: Schmetterling und Knochenhand

Der chinesische Dichter Lian Yang lebt seit 1989 im Exil. Zur Zeit ist er Gast des Berliner Wissenschaftskollegs. Uwe Kolbe hat ihn in Grunewald besucht.

Der Bus folgt dem Kurfürstendamm in ganzer Länge. Eine Haltestelle hinter seinem westlichen Ende am Rathenauplatz endet die Reise in einer anderen Welt. Das polierte Schild erklärt eine hundertjährige Villa zum Hauptgebäude des Wissenschaftskollegs, dem „Institute for Advanced Study Berlin“. Gegenüber die nächste Villa, mit angeschlossenem Neubau, wo wir verabredet sind. Der chinesische Dichter Yang Lian ist einer von über 50 Wissenschaftlern und Künstlern, die im Studienjahr 2012/2013 hier leben.

Yang Lian ist ein vielgereister Mann von 58 Jahren, ein gelehrter Poet. Dabei betont er nicht ohne Stolz: „Ich habe mir alles selbst beigebracht.“ Gedichte zu schreiben begann er noch in Maos Kulturrevolution, Mitte der siebziger Jahre. Statt in die weiterführende Schule war er drei Jahre aufs Dorf geschickt worden. Die Universität blieb ihm verschlossen. Allerdings hatte er Glück im Unglück und fand eine Anstellung beim staatlichen Rundfunk. Trotz Schwierigkeiten mit dem Veröffentlichen, trotz wiederkehrender Verbote begründete er gemeinsam mit Bei Dao und anderen die Literaturzeitschrift „Jintian“ (Heute). Beide gehörten sie zu einer Autorengruppe, die sich „obskur“ nannte.

1988 reiste er zu einem Studienaufenthalt an australischen und neuseeländischen Universitäten. Dort begann sein Exil. In einem Gedicht unter der Jahreszahl 1989 heißt es: „… wieder ein Gemetzel, Blut ist immer noch die einzig namhafte Landschaft.“ Das Massaker vom 4. Juni 1989 in seiner Heimatstadt, auf dem Platz des Himmlischen Friedens alias Tienanmen, änderte Yang Lians Leben und Werk. Öffentlicher Protest mit anderen Autoren und Künstlern von Neuseeland aus führte zum sofortigen Publikationsverbot in China. Er nahm die neuseeländische Staatsbürgerschaft an. Darüber vergaß und verschwieg er nicht, dass etwa sein Kollege Liao Yiwu wegen seines Protests nach dem Massaker in China für vier Jahre ins Gefängnis ging.

Als Stipendiat des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) kam er erstmals 1991 nach Berlin, gemeinsam mit seiner Frau, der Schriftstellerin You You. Die Erfahrung der Zeit spiegelt sich in „Berliner Gedanken“ von 2007. Durch Erfahrungen von Ost und West in einer Dimension geprägt, die Europäer nicht teilen, schrieb er damals: „Und in der Tat ist die Berliner Mauer viel zu schnell nieder- und abgerissen worden, der Kalte Krieg zu schnell in Vergessenheit geraten. Wir hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Erinnerung daran hinter uns zu lassen.“

Yang Lian ging es nicht um die Fortsetzung der Teilung, erst recht nicht um die Weiterführung eines Gesellschaftsexperiments. „Tiefe ist alles“, so endet derselbe Essay, das meint: eingedenk sein, die Sprache prüfen, Grundsatzkritik auch am anything goes in China selbst und im Umgang des Westens mit dem Regime. Wie der Mensch in der Diktatur funktioniert, gleichgültig gegenüber anderen Werten als denen des nackten Überlebens, dagegen richtet sich seine Sprache der Differenz. Damit tritt er bewusst das poetische Erbe des I Ging, des Laotse und des politisch engagierten Dichters Du Fu aus dem 8. Jahrhundert an („Ach, wenn ihr nur wüsstet, wie schaurig sie schrein, die Soldaten, in Tschinghai erschlagen“), einer Schule, für die Poesie Denken in Präzision ist. Engagement heißt, das treffende Wort unter allen Umständen zu finden.

Yang Liang sagt von sich: "Ich lebe in Schriftzeichen mit vier Wänden"

Yang Lian lebt seit 1989 in fruchtbarer Diskussion mit seinen Übersetzern. Seine Vorstellung von der eigenen Sprache macht es nicht leichter. Im Gespräch mit dem syrischen Dichter Adonis betont er im Anschluss an die gemeinsame Feststellung, wie wenig sich beide als „Dissidenten“ verstanden wissen wollen: „Den ‚Unterschied’ oder die Distanz zwischen den Wörtern und den Dingen nehmen nur Menschen wahr, denen diese Unterscheidung bewusst ist. Die Frage, die sich Dichter stellen sollten, lautet also, wie diese Distanz ganz bewusst geschaffen, und nicht, wie sie verringert werden kann.“ Yang Lian kann längst wieder nach China einreisen, er lebt nur nicht dort, und er hat Gründe. Sein Exil ist Haltung. Das Eigene wird fremd, das Fremde eigen. Seine Gedichte sind extrem individuell und zugleich universell, das macht sie groß. Auf die Frage, ob er auf Englisch dichten könnte wie etwa Joseph Brodsky vor ihm, schüttelt er den Kopf. Er lebt in Schriftzeichen „mit vier Wänden“. Unter dem Titel „Das Zeichen des Lebens“ lesen wir Typisches: „Der Tod ist auch nur eine Lebensweise, Laute im Munde zu kauen ...“ Reibungspunkt und Zündfunke dieser Gedichte ist nicht Leben. In dem zuletzt auf Deutsch in Übersetzung von Wolfgang Kubin erschienenen Gedichtband „Konzentrische Kreise“ (Edition Lyrik Kabinett, Hanser 2012) beginnt man unwillkürlich zu zählen. Die Worte, also die Zeichen „Tod“, „tote“, „Toter“ und „Sterben“ in allen Ableitungen bringen es auf mindestens siebzig Auftritte.

Durch die Dichtung der Welt zieht sich eine Linie, lang genug, Vergil und Dante durch alle Kreise der Hölle zu folgen oder, anders gesagt, ist darin ein Faden, so rot wie jener der Ariadne, seitdem der Mörder Theseus sich an ihm entlang mit blutigen Händen aus dem Labyrinth zog. Orpheus, der mythische Dichter, machte die Erfahrung des Todes mitten im Leben um der Liebe willen: Wo immer der Tod waltet, ist Leben gemeint. Die Unterwelt ist offen bei Homer, Vergil, Dante, Shakespeare. Nicht zu vergessen in dieser Reihe Ezra Pound. Yang Lian schrieb über ihn, sein zentrales Werk sei erst „vollständig“ mit der Übersetzung der „Pisaner Cantos“ ins Chinesische 1998. Das für Yang Lian vorbildliche Großwerk der Cantos beginnt mit einer Übersetzung der Totenbeschwörung des Odysseus aus lateinischer Quelle. Was heißt das für den chinesischen Dichter?

Es geht um Initiation und den bewussten Eintritt in die Tradition. An dieser Knochenhand, durch diese hohlen Augen ist genau zu sehen, was die menschlichen Verhältnisse ausmacht. Der Tod in den Gedichten Yang Lians, das ist privatmythologisch der seiner Mutter, historisch der jener jungen Protestierenden vom Tiananmen-Platz, poetisch der produktive „Andere“ oder sogar „das Andere“ zur Flachheit, zum geistigen Ramsch, dem sich der Dichter bewusst entgegensetzt. Sein Projekt für das noch bis Sommer laufende Jahr am Wissenschaftskolleg trägt den Titel „Das Andere der poetischen Eingebung in einer neuen Welt“.

1997, als Yang Lian nach einem weiteren Stipendienaufenthalt auf Schloss Solitude bei Stuttgart mit seiner Frau nach London zog, um einen festen Wohnsitz zu finden, hatten sie etwa zeitgleich eine Wohnung in Berlin erworben. Wie man hört, sind die Möbel aus England nun wieder hier eingetroffen. In dem unveröffentlichten Gedicht „Schmetterlings-Berlin“ heißt es: „Fürchtest du nicht, dich finge die Spur von Duft, wirst du selbst der Duft, sendest den Brief zurück, den der Tote hier ließ, die Marke darauf mit den Ozeanwogen: Berlin.“

Uwe Kolbe lebt als Lyriker in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei S. Fischer die „Lietzenlieder“.

Uwe Kolbe

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