Mike Leighs "Mr. Turner" in Cannes: Pixel auf Leinwand
Der erste Favorit für die Goldene Palme in Cannes: „Mr. Turner“, Mike Leighs sublim-meisterlicher Film über den englischen Maler William Turner.
Die gute Nachricht zuerst: Eben noch gingen sich Olivier Dahan und Harvey Weinstein skandalträchtig an die Gurgel, jetzt liegen sie sich in den Armen. Der amerikanische Verleiher zahlt nur drei statt der ursprünglichen fünf Millionen Dollar für den US-Start von „Grace of Monaco“, zum Ausgleich darf der französische Regisseur dort seine Schnittfassung zeigen, die gerade in Cannes mit Pauken und Trompeten durchfiel. Fußnote: Sollten denn doch Änderungen vonnöten sein, dann „nur einvernehmliche“. Großes Filmindianer-Ehrenwort!
Und nun das Schlimme: Wer Dahans groteske Hommage an Grace Kelly alias Gracia Patricia noch „ganz nett“ fand, wurde anderntags in Sachen Biopic eines Besseren belehrt. Oder sollte man sagen: eines Besten? Denn Cannes terminierte ausgerechnet Mike Leighs „Mr. Turner“ an den Beginn des Wettbewerbs – und schon hat das Festival mit dem sublimen Film über den englischen Maler seinen ersten Palmen-Favoriten. Kurze zweieinhalb Stunden braucht Mike Leigh für das großartig vitale Lebensgemälde aus den letzten 25 Jahren des einzelgängerischen Künstlers – und erfindet dabei das heruntergekommene Genre der Berühmtheitsabfilmerei unerhört neu.
Keine eingeblendeten Jahreszahlen: Wir sind sofort in einer selber zu entdeckenden Zeit. Keine sauber abgehäkelte Personenexposition: Figuren sind da, verschwinden oder werden bedeutsam, wer weiß das schon immer sofort auch im richtigen Leben. Keine Dramatisierung einer signifikanten Lebensphase: Der dicke, mürrische, wortkarge, grunzlautreiche Unsympath William Turner trippelt einfach voran durch die ihm bemessenen Räume und Jahre. Kein Voice-Over, kaum Filmmusik, kein Tremolo vorm Finale, keine Lexikonzeilen im Abspann: stattdessen der Blick auf die alt gewordene, todkranke Dienerin, die sich langsam durch das vertraute und nun leere Haus bewegt.
Ja, „Mr. Turner“ erklärt nichts. Man muss nichts vorab über das Verhältnis des 1775 geborenen und 1851 gestorbenen Spätromantikers und Vorläufers der Impressionisten zur Royal Academy, zu seinem geliebten Vater, zur Mutter seiner verleugneten Kinder oder zur zweifachen Witwe Sophia Booth wissen, die sein spätes Leben teilte. Man lernt das alles kennen mit der Zeit. Der Film reist, wie William Turner reist. Er ist ungeschwätzig wie sein Held. Und vor allem: Er malt Pixel auf Leinwand, wie Turner Öl auf Leinwand malte, er entwirft – mit den Augen des Kameramanns Dick Pope – seine eigene Welt aus Turners Farben.
Timothy Spall als William Turner spielt derb, direkt, nahezu stumm und immer stark
Nicht, dass es immer feierlich zuginge in „Mr. Turner“, im Gegenteil. Timothy Spall, der so vielgesichtige Mike-Leigh-Schauspieler, ist in der Rolle seines Lebens derb, direkt, nahezu stumm und immer stark; einer, der die Schönheit und Schrecken der Welt ohne Unterschied trinkt und in sein eigenes Licht verwandelt. Warum dabei nicht Farbe mit Spucke mischen, warum nicht spotten über andere und irgendwann selber zum Gespött werden, warum nicht eine Art Glück oder zumindest Zuflucht suchen in diesem Bett und in jenem für länger?
So logisch wie chronologisch wandert „Mr. Turner“ voran, und Spall hat hierfür die durchweg grandios geführten Paul Jesson, Dorothy Atkinson und Marion Bailey an seiner Seite. Und wenn der Film sich aufhält, dann beiläufig für Bleibendes: Einmal etwa spielt, im Schloss eines Gönners, eine Frau am Klavier „Dido's Lament“ von Henry Purcell. Turner stellt sich dazu und singt mit rauer Stimme ein paar Takte mit: Schon dieses „Remember me“, irgendwo im ersten Fünftel des Films unpathetisch herbeigeführt und dramaturgisch folgenlos verklingend, kündet vom beglückenden Überfluss der Mittel, über die der inzwischen 71-jährige Mike Leigh verfügt. Sein Herzensprojekt „Mr. Turner“, wie immer ohne Drehbuch mit den Schauspielern erarbeitet, führt nachhaltig unmittelbar in ein fremdes Leben und eine sehr vergangene Zeit – ein neuer Meilenstein der Filmgeschichte.
Atom Egoyans neuer Film ist eine Enttäuschung
Neben diesem gewaltigen Werk mag es sogar manch guter Film schwer haben; Atom Egoyans und Abderrahmane Sissakos simple Schurkenstücke aber hätten auch in anderem Kontext wenig Bestand. Der Mauritaner Sissako entwirft, in fraglos schönen Wüstenbildern, eine Welt aus Fundamental-Islamisten, die durchweg guten Zivilisten mit Waffengewalt ihre Regeln aufzwingen. „Timbuktu“, befremdlich zwischen bäuerlichem Familiendrama und mitunter witzelnd hingeworfenen Szenerien oszillierend, verlässt sich ganz auf die hinreichend geläufige Wucht seines Themas – und darf sich damit zumindest des Rückhalts der Wohlmeinenden sicher sein.
Bei Egoyan, der so großartig begann und so lange schon nichts Nenneswertes mehr zustande bringt, geht die Enttäuschung tiefer. Das Thema Kinderpornografie missbraucht er für einen mit bombastischem Score aufgeladenen Thriller; ein dauerböser Bösewicht, weinende Eltern, eine jahrelang gefangen gehaltene Tochter, redliche Cops, vertauschte Weingläser und irgendwann – das gehört ja auch zu den Klischees des Genres – eine Verfolgungsfahrt. Eingangs betont verrätselt angelegt und doch bloß öde vorhersehbar, erinnert „The Captives“ zumindest vom winterlichen Setting her an Egoyans brillante Trauer-Studie „Das süße Jenseits“, wofür er 1997 in Cannes den Großen Preis der Jury bekam. Lange her.