Das Solodebüt von Jamie XX: Phantome auf der Party
Das Londoner Elektrogenie Jamie XX feiert auf seinem Solodebüt "In Colour" die englische Clubmusik. Seine Kollegen von The XX sind als Gäste zu hören.
Auf den Fotos, die von Jamie XX durchs Netz geistern, blickt einen ein anämisch, schüchtern und nachdenklich wirkender junger Mann mit Wuschelhaaren an, der offenbar nur ungern vor der Kamera lächelt. Auf einem Selfie mit Jamie XX würde man sich neben einem Typen stehen sehen, bei dessen Anblick einen jeder fragen würde, wer denn dieser ultra-desinteressiert dreinblickende Mann sein soll.
Man könnte immerhin antworten: Einer der aufregendsten Popmusiker unserer Tage. Mit „In Colour“ veröffentlicht er am Freitag ein Album, an das man sich garantiert noch erinnern wird, wenn dieser Sommer vorüber ist. Neben Kamasi Washingtons Spiritual-Jazz-Revival-Platte „The Epic“ ist das Solodebüt von Jamie XX das gefeierte Album der Saison. Während der eine den Geist des Aufbruchs des Jazz Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger beschwört, erinnert der andere an eine weniger weit zurückliegende Ära, an die der Raves in England der letzten 30 Jahre, an UK-Dance, den Aufbruch von Jungle und an die Piratensender, die diese elektronische Undergroundmusik spielten.
Jamie XX baut Euphorie auf und lässt sie dann ins Leere laufen
Das Erstaunliche an Washington wie an Jamie XX ist, dass beide sich mit Vergangenem beschäftigen, ohne dass sich gleich das Wörtchen „Retro“ aufdrängt. Die Musik auf „In Colour“ ist keine Reminiszenz an vermeintlich bessere Zeiten, wie das bei Retrophänomenen so oft der Fall ist. Das Erinnern funktioniert eher subtil. Hier eine Bassline, die von einem Neunziger-Rave herübergeweht zu sein scheint, dort das Sample eines alten Jungle-Stücks. So stellt sich Jamie XX in eine historische Linie typisch englischer Tanzmusik, ohne freilich selbst Techno- oder Jungle-Stücke zu produzieren.
Vom „Hardcore Continuum“ spricht der englische Musikjournalist Simon Reynolds und versteht darunter die historische Abfolge englischer Clubmusikspielarten von Jungle über Two-Step bis hin zu Grime. Man hat das Gefühl, Jamie XX wollte mit seiner Platte an die These des Poptheoretikers erinnern. Allerdings deutet er das, was Reynolds unter Hardcore versteht, in seinen Tracks fast immer nur an, ist lieber ein Zeichner von Skizzen als ein großer Maler. Am liebsten baut er mittels Pianosamples, Bläsern oder eigentümlichen Grummeltönen langsam Euphorie auf, die er genau dann, wenn man denkt, jetzt geht es richtig los, einfach ins Leere laufen lässt. Die Angst vor einem Ende des Hardcore-Continuums schimmert durch alle verfransten Ecken von „In Colour“.
Remixe für Radiohead, ein Album mit Gil-Scott Heron
Wie souverän Jamie XX, der eigentlich Jamie Smith heißt, diskursive Popmusik produziert, die dennoch an keiner Stelle angestrengt wirkt, ist atemberaubend. Der 26-Jährige verzahnt sein musikalisches Material so spannungsreich wie derzeit kaum ein anderer. Bekannt wurde er – da war er gerade mal 20 Jahre alt und eben mit der Schule fertig – mit der Band The XX. Das Trio veröffentlichte zwei Platten, die durch schillernden Pop-Minimalismus bestachen, der auch auf „In Colour“ eine wichtige Rolle spielt. Die Musik von The XX ist ruhiger, melancholischer Indiepop, der in seiner virtuosen Reduziertheit an die Postpunkband Young Marble Giants erinnert. Nebenbei machte sich Jamie XX schnell einen Namen als Remixer und DJ, irgendwann auch als Produzent.
Berührungsängste scheint der blasse Mann aus London nicht zu kennen. Er hat Radiohead remixt, mit dem großen Poeten des amerikanischen Soul, Gil Scott-Heron, kurz vor dessen Tod eine gefeierte Platte produziert und sogar mit Rihanna und Alicia Keys zusammengearbeitet. In all diesen Jahren hat er zwischendurch an eigenen Stücken gebastelt. Über sechs Jahre hinweg sind die zwölf Songs von „In Colour“ entstanden. Dennoch klingt die Platte nicht nach Stückwerk. Die meisten Lieder sind instrumental, bei drei Nummern singen die anderen beiden The-XX-Mitglieder und auf „I Know There’s Gonna Be (Good Times)“ sind die Stimmen des aufstrebenden jungen Rappers Young Thug und des Dancehall-Toasters Popcaan zu hören.
Tanzende Jugend kann die Welt verändern
Jamie XX arbeitet mit einer bunte Farbpalette von Pop, Dub, Techno, Hip Hop und allen möglichen weiteren Genres. Er sagt, dass sich das Konzept für sein Debüt beim Ansehen einer kurzen Filmcollage verfestigte, die sich unter dem Titel „Fiorucci Made Me Hardcore“ auf Youtube finden lässt. Wie eine Traumsequenz zusammengeschnitten, werden hier Bilder tanzender Kids in England gezeigt, von der Ekstase auf Northern-Soul-Partys in Englands Industriestädten in den Sechzigern und Siebzigern bis hin zu Jungle-Club-Nächten geht diese popgeschichtliche Zeitreise. Die Jugend, die tanzend die Welt verändern kann, daran scheint Jamie XX weiterhin zu glauben – auch wenn die Londoner Clubkultur wohl schon wildere Zeiten erlebt hat.
Jamie XX rekurriert auf etwas, das er selbst gar nicht aus erster Hand kennt. Dubstep und Grime hat er mitbekommen, aber als es mit Jungle losging, war er noch nicht einmal im Kindergartenalter. Sein Geschichtsbewusstsein kommt von Youtube, seine Phantomschmerzen hat er sich bei Stöbern im Internet geholt. Er ist nicht der Einzige mit diesen Symptomen. Hauntology- oder Hypnagogic-Pop nennt man seit einer Weile die Musik, in der vor allem Elektromusiker die Sounds ihrer Jugend weiter herumspuken lassen. Jamie XX erweitert die Definition des Hypnagogic-Pop nun dadurch, dass es bei ihm nicht einmal mehr die selbst gemachten Erfahrungen sein müssen, die in Klänge übersetzt werden.
Jamie XX „In Colour“ erscheint am 29.5. bei Young Turks
Andreas Hartmann
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