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Bis zur Jahrtausendwende schien obsessives Plattensammeln die Beschäftigung einer Minderheit.
© Bettina Seuffert

Music Week: Wie das Sammeln zum Mainstream wurde

Pop in der Retrofalle: Früher war das obsessive Sammeln von Musik ein Fall für Freaks. In der Ära des Internets wird aus der Leidenschaft dank neuer Technologien ein Massenphänomen.

Ich kann mich nicht für die offensichtlichen Formen des demonstrativen Konsums begeistern – schrille Autos, Designer-Klamotten oder Luxuszeugs. Nichtsdestotrotz muss ich zugeben, dass ich im Lauf der Jahre haufenweise materielle Güter angehäuft habe, die meisten davon sind Bücher und Platten. Vielleicht wirken die irgendwie erhabener als andere Besitztümer. Als Konsumkritiker besitze ich ganz schön viel – wenn auch eher ausgefallene Platten und nerdige Bücher. Tatsächlich bin ich in diesem Bereich ein virtuoser Konsument, ich durchsiebe den Schlamm, um die Sachen zu finden, die übersehen oder verstoßen wurden.

Vermutlich erlaubt mir das Bewusstsein darüber, dass das meiste, was ich kaufe, alter Kram ist, die Pseudo-Distinktion, durch die ich mich mit meiner Konsumhaltung über den normalen Einkaufszentrums-Zombie erhebe. Das Kaufen von Kleidung, Möbeln oder technischen Geräten langweilt mich zu Tode. Aber diese andere Art des Shoppings ist ein Abenteuer. Ich verspüre noch immer Aufregung und Vorfreude, wenn ich einen Second-Hand-Laden betrete. Egal, ob ich etwas finde, wonach ich schon seit Ewigkeiten suche, oder auf etwas stoße, das so bizarr ist, dass ich noch nicht einmal von seiner Existenz wusste – das Erworbene erscheint mir weniger als Ware denn als Verheißung. Trotzdem habe ich mich selbst bis vor kurzem nicht als Sammler gesehen. Sammler waren für mich Leute, die sich an seltene Artefakte wie Münzen, Briefmarken oder Antiquitäten klammern. Plattensammler stellte ich mir als seltsame Käuze vor, auf bestimmte Formate oder Aufmachungen fixiert – buntes Vinyl oder Seven-Inch-Singles, japanische Pressungen von Alben. Mir ging es nur um die Musik, jedenfalls sammelte ich nicht um des Sammelns willen. Bei mir handelte es sich um Recherchematerial für den Job, das Teil meiner musikwissenschaftlichen Bildung war.

Aber eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte ein immenses privates Archiv von Ton-Artefakten angehäuft. Ich könnte dafür den endlosen Strom an Promos, der mich per Post erreicht, verantwortlich machen, aber um ehrlich zu sein: Ich hatte diesen Weg lange vor meiner Zeit als Rockkritiker eingeschlagen. Als Studienabbrecher, der von der Stütze lebte, habe ich in Oxford Mitte der 80er Platten in der Bibliothek auf Tapes überspielt, „nur für alle Fälle“. Als ich später als Freiberufler an Geld kam, fing ich an, alle möglichen Platten zu kaufen, die mich interessierten, einige davon sind peinlicherweise bis heute eingeschweißt. Wenn die Schränke und Regale in jedem Zimmer deiner Wohnung voller Platten sind, im Keller noch mehr Vinyl gelagert ist und du in London sogar einen Lagerraum voller CDs, Tapes, LPs und Singles angemietet hast, seit du vor 15 Jahren in die USA gezogen bist … dann musst du den Tatsachen ins Auge sehen. Du bist ein Sammler, ein chronischer, und du hast den Punkt, bis zu dem es eine überschaubare und bekömmliche Freizeitbeschäftigung ist, längst überschritten.

Eine derart gigantische Plattensammlung übt einen unterschwelligen Druck aus. Man denkt darüber nach, ob man überhaupt noch genug Zeit hat, all die Sachen, die man mag, noch einmal anzuhören, ganz zu schweigen von neuen Entdeckungen. Diese Besessenheit von Musik wird zu einer Variante der Midlife-Crisis, wenn all die voll gestopften Regale nicht mehr Vergnügen bedeuten, sondern zu Vorboten des Todes werden.

Dass die psychoanalytische Interpretation im obsessiven Sammeln einen Versuch sieht, dem Tod zu entgehen, oder zumindest eine Ersatzhandlung bei unbestimmten, unergründlichen Ängsten, die oft aus kindlichen Gefühlen der Hilflosigkeit resultieren, entbehrt nicht einer bitteren Ironie. Wenn man all diesen Kram hat, sagt die unbewusste Logik, ist man gegen Verlust gefeit. Aber schlussendlich erinnern einen all diese Dinge an die Unausweichlichkeit des Verlustes. „Ich fürchte den Tag meines Todes“, meinte Gareth Goddard, Sammler und Kopf des Reissue-Labels Cherrystones. „Weil ich mich frage: Was zur Hölle wird aus meiner Sammlung?“

Das Internet war ein großer Segen für die Plattenhändler

Ich gebe zu, die Frage nach dem Schicksal meiner Plattensammlung, wenn ich den Abgang gemacht habe, treibt auch hin und wieder mich um. Nicht dass meine Frau dann nicht dringlichere Sorgen hätte, aber ich habe sie wiederholt ermahnt, die Sammlung dann nicht zum nächsten Heilsarmee-Laden zu tragen. Weil ich weiß, dass sie einiges wert ist, aber auch, weil mir der Gedanke missfällt, dass mit den kostbaren Scheiben nicht sorgsam umgegangen werden könnte. Auf einer tieferen Ebene scheint es, als würden Gareth Goddard und ich uns selbst im Voraus betrauern. Wir sind diese Platten: Sie verkörpern einen großen Teil dessen, was wir mit unserer Zeit auf diesem Planeten angefangen haben, unermessliche Stunden der Mühe und der Liebe.

Bis zur Jahrtausendwende schien obsessives Plattensammeln die Beschäftigung einer Minderheit. Wenn ich mir in den 90ern heimlich die CD-Regale von Leuten anschaute, fiel auf, wie zusammengewürfelt sie waren (halbwegs trendige Alben, die in der College-Zeit gekauft wurden, ein paar ausgewählte Klassik- und Jazz-CDs) und wie, noch viel häufiger, deren Chronologie an einem bestimmten Punkt abbrach, wenn der Zufluss neuer Musik auf ein Tröpfeln reduziert wurde. In den 2000ern schien das obsessive Sammeln von Musik dank neuer Technologien zur Verbreitung und Aufbewahrung von den Nischen in den Mainstream überzuschwappen. Es wurde zu einer modernen Sage: überschwängliche Bekundungen von Leuten, deren schlummernde oder erloschene Passion für Musik vom iPod wiedererweckt wurde. Dieses Gerät ließ sie eine zweite Jugend erleben, in der sie begierig neue Musik und unentdeckte Ecken der Vergangenheit erkundeten. iPod/iTunes und unzählige andere Formen des Zugangs zur Musik (Spotify, Rhapsody, illegales Filesharing etc.) erlaubte es den Leuten, die Freuden des Sammelns – also nicht nur das Hören, sondern auch das Kategorisieren, das Erstellen von Playlists – von den „Schattenseiten“ wie dem physischen Aufwand, Sachen zu finden, den Problemen der Aufbewahrung und der Ordnung der Sammlung, zu trennen.

Der Verkauf über das Internet war ein großer Segen für die Plattenhändler, auch wenn damit einiges von der Romantik des Plattenkaufens in der Welt der Läden und Plattenbörsen verloren ging. Online-Angebote wie Ebay, Gemm, Discogs und Popsike zum Finden, Auktionieren und Vergleichen der Preise haben das Sammelerlebnis bereits verändert und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, in einem Second-Hand-Plattenladen ein Schnäppchen zu finden, verringert – schließlich ist der Marktwert einer Platte nur ein paar Klicks vom Besitzer entfernt.

Dank Ebay hat sich nicht nur das Sammeln von Musik mehr und mehr verbreitet, und der zunehmende Konflikt zwischen Sammelwut und Limitierung von Wohnraum hat dafür gesorgt, dass die Lagerindustrie mit einem Zuwachs von 700 Prozent im letzten Jahrzehnt zu einem der am schnellsten wachsenden Sektoren der US-amerikanischen Wirtschaft geworden ist. Genau wie ich mit meinem Lagerraum in London, scheinen viele Leute lieber Geld zu zahlen, statt ihre Sammelleidenschaft zurückschrauben oder die Sachen loszuwerden, die sie angehäuft haben.

Der britische, in New York lebende Musikjournalist Simon Reynolds, 49, hat mit „Retromania“ das meist diskutierte Pop-Buch des Jahres geschrieben. Unser Vorabdruck stammt aus der deutschen Ausgabe „Retromania. Wenn der Popkultur die Vergangenheit ausgeht“ (übersetzt von Chris Wilpert, 540 S., 29,90 €), die am 18. Oktober im Mainzer Ventil Verlag erscheint.

Simon Reynolds

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