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Seine Heimat ist die Musik. Kirill Petrenko, der neue Chef der Philharmoniker.
© Sven Hoppe/dpa

Kirill Petrenko: „Als Musiker sind wir Geschichtenerzähler“

Kirill Petrenko über seine Lehrjahre, Momente, in denen Philharmoniker gezügelt werden müssen, und eine Taktik, wie man sich die Musik der Moderne erschließt.

Kirill Petrenko gibt seit Jahren keine Interviews mehr. Bei der Vertragsunterzeichnung im Oktober 2016 sprach er von einer persönlichen Entscheidung. Er wolle nicht allzu viel über seine musikalische Arbeit reden. Was aber nicht heißt, dass Petrenko keine Fragen beantwortet, im Gegenteil. Bei der Jahrespressekonferenz im April zeigte er sich ebenso aufgeschlossen wie bei den Interviews, die einzelne Philharmoniker mit ihm für die Digital Concert Hall geführt haben. Die Gesprächsreihe auf www.digitalconcerthall.com, der ein Großteil der folgenden Zitate entnommen ist, möchte Petrenko auch in seiner Amtszeit fortsetzen.

START MIT BEETHOVENS NEUNTER

Noch bevor mir bewusst wurde, dass 2020 ein Beethoven-Jubiläum ansteht, wusste ich, es gibt nur ein Werk, mit dem ich meine Tätigkeit hier in Berlin beginnen kann, Beethovens Neunte. Wenn wir eine Botschaft an einen fernen Planeten schicken wollen, die unsere fantastische Kultur ebenso zeigt wie all die schrecklichen Dinge, die Menschen getan haben, kann das nur Beethovens Neunte sein. Sie enthält all das, was uns Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen. (Jahrespressekonferenz im April 2019)

KINDHEIT IN RUSSLAND

Meine Eltern sind beide Musiker, und ich genoss eine musikspartanische Erziehung. So wie die Spartaner mit dem Schwert zur Welt kamen, wurde ich gleich ans Klavier gesetzt, ich war vielleicht zwei. Ich beklage mich nicht darüber, ich hatte das Glück, dass meine Eltern mir den Weg geebnet haben. Tschaikowsky, Brahms, Rachmaninow, das waren meine ersten Eindrücke. (Gespräch mit dem Cellisten Knut Weber, April 2018)

DAS UNBEKANNTE IM BEKANNTEN

Tschaikowskys 5. Sinfonie bekam ich in meiner Kindheit schon auf dem Schulweg mit, in Russland wurde sie jedes Jahr gespielt. Wenn ich mir heute die Partitur vornehme, dann bin ich oft überrascht, dass da etwas ganz anderes steht als das, was ich längst zu kennen glaube. Ich muss dann gegen meine Gewohnheit dirigieren, damit nicht das Alte, Herkömmliche, Bekannte wieder greift. Wobei die neue Lesart genauso organisch klingen sollte wie die alte. Es soll nicht gemacht und elaboriert klingen, sondern empfunden. (Gespräch mit dem Geiger Stanley Dodds, März 2019)

ZEIT IN WIEN

Ich kam mit 21 Jahren in die Stadt, um nach meiner Klavierausbildung in Vorarlberg Dirigieren zu studieren. Wir machten täglich tausend musikalische Erfahrungen, an der Hochschule, in der Bibliothek, wo wir die alten Partituren mit den Eintragungen von Bruno Walter studierten, und abends auf den Stehplätzen in der Oper oder im Konzert. Die konnte man sich auch als Student leisten, wir gingen jeden Abend hin. Leider habe ich Karajan nicht mehr live erlebt, auch Bernstein nicht. Aber Carlos Kleiber mit dem „Rosenkavalier“, Horst Stein, Heinz Wallberg, Heinrich Hollreiser, all diese Handwerker im besten Sinne des Wortes, wie es sie heute vielleicht weniger gibt. Vier Jahre lang haben wir von früh bis spät Musik aufgesaugt. Wir gingen dann auch in die Proben von Nikolaus Harnoncourt mit dem Concentus Musicus, auch bei den Wiener Philharmonikern konnte man die Proben besuchen, etwa mit Abbado. In Wien habe ich unschätzbare Erfahrungen gesammelt. (Gespräch mit Stanley Dodds, 2019)

MEININGEN

Nach der Akademie in Wien kam die Einladung, in Meiningen den „Ring des Nibelungen“ zu dirigieren. Die Regisseurin Christine Mielitz hatte die verrückte Idee, den „Ring“ an vier Tagen in Folge herauszubringen. Daraus wurde meine erste Stelle als Generalmusikdirektor. An der Meininger Hofoper hat auch der junge Richard Strauss als Kapellmeister angefangen, unter den Fittichen von Hans von Bülow. Obwohl Bülow mit dem Vater von Strauss – er war Solo-Hornist an der Münchner Oper – im Clinch lag, hat er den Sohn unterstützt, wo er nur konnte. Bülow dirigierte in Meiningen dann auch Beethovens Siebte. Strauss beobachtete ihn dabei, hat es notiert und uns überliefert. Wenn wir jetzt Werke von Strauss und Beethovens Siebte spielen, gibt es diese tiefen biografischen Verbindungen, die mich als Dirigent ebenso stark betreffen wie das Orchester. (Gespräch mit dem Soloflötisten Emmanuel Pahud, August 2018)

TRADITION!

Ich würde nicht sagen, dass ich mich gegenüber einem früheren Chefdirigenten der Philharmoniker besonders verpflichtet … Ja doch, vielleicht Hans von Bülow. Er war auch in Berlin, Meiningen und München. Nur in anderer Reihenfolge. (Pressekonferenz zur Vertragsunterzeichnung. Oktober 2016)

OPER ODER PHILHARMONIE?

In der Oper lernt man, gleichzeitig an viele Dinge zu denken. Mit dem Chor proben, mit dem Orchester arbeiten, ein Vorsingen machen, mit der Tonabteilung Mikrofone ausprobieren: So viele Dinge passieren an einem einfachen Arbeitstag – und abends geht man nach Hause und lernt Partitur. Ich freue mich darauf, jetzt mehr Symphonisches machen zu können. Aber das bedeutet keine kleinere Dimension. Im Operngraben bist du nicht der einzige Verantwortliche, da sind der Regisseur, die Sänger, die Beleuchtung und viele mehr. Das schmälert zwar nicht die Arbeit des Dirigenten, aber es stellt sie in eine Reihe. Wenn Sie aber in der Philharmonie eine Brahms-Symphonie dirigieren, hilft Ihnen niemand. (Gespräch mit Knut Weber, 2018)

Deutsch-russische Freundschaft. Kirill Petrenko bedankt sich bei Konzertmeister Daishin Kashimoto, stellvertretend für das ganze Ensemble.
Deutsch-russische Freundschaft. Kirill Petrenko bedankt sich bei Konzertmeister Daishin Kashimoto, stellvertretend für das ganze Ensemble.
© Monika Rittershaus

HEIMAT

Es klingt vielleicht etwas pathetisch, aber ich fühle mich in der Musik zu Hause. Eine geografische Heimat zu nennen, das ist schwierig. Ich fühle mich in Österreich wohl, wohin meine Eltern ja gekommen sind. Ich fühle mich in Berlin wohl (Petrenko lebte elf Jahre in Berlin, bis 2013), und auch in Süddeutschland. Und in Israel, wo ein Großteil meiner Verwandten lebt. Aber richtige Heimatgefühle habe ich leider nicht, auch kein Heimweh nach Omsk. (Gespräch mit dem Klarinettisten Alexander Bader, Dezember 2012)

NEUE MUSIK

Je näher wir als Musiker einem Werk wie Schönbergs Violinkonzert kommen, desto eher wird das Publikum es lieben lernen. Sie beschreiben diese Musik wunderbar mit dem Bild von vielen verschiedenen Sprachen, die man anfangs nicht versteht. Zuerst geht es darum, wie diese Sprachen klingen. Abstoßend? Oder fremd, aber irgendwie anziehend? Dann findet man zwei, drei Wörter, die einem gefallen. Irgendwann fängt man an, sich in diesen Sprachen zwar nicht zu Hause, aber wohlzufühlen, auch wenn man immer noch nicht alles versteht. Genauso ging es mir mit dem Deutschen: Am Anfang klang es abstoßend, dann reizvoll, dann verstand ich zwei, drei Wörter, und jetzt liebe ich die Sprache. (Gespräch mit Stanley Dodds, 2019)

KLANGVORSTELLUNG

Wenn ich zu Hause die Partitur studiere, dann Seite für Seite. Ich singe mir die Musik in meinem Inneren vor und versuche, in mir drin eine klare Vorstellung zu entwickeln. Wenn du vor ein Orchester trittst, kommt so viel auf dich zu, an Klangmöglichkeiten, unterschiedlichen Sichtweisen. Wenn du da nicht deine eigene Sichtweise hast, gehst du unter. (Gespräch mit Alexander Bader, 2012)

GESCHICHTENERZÄHLER

Als Musiker sind wir Geschichtenerzähler. Auch Gefühle sind entweder eine Geschichte für sich oder mit einer Geschichte verbunden. Wir können uns nicht nur mit Klängen befassen, sondern müssen das hervorholen, womit die Musik historisch und sozial verbunden ist. (Gespräch mit dem Cellisten Olaf Maninger, März 2017)

MITTE UND GLUT

Die Mitte ist die höchste Tugend, schrieb Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“. Ich versuche, diese Mitte auf allen musikalischen Ebenen zu finden, nicht nur zwischen laut und leise oder langsam und schnell. Das heißt nicht, dass man nicht auch extrem sein soll, aber der Weg geht durch die Mitte. Bei den Proben möchte ich einen emotionalen impact geben, aber nur so viel, dass die Musiker die Noten noch selber genau lesen, sie sollen nicht blind werden. Die Philharmoniker haben eine Glut in sich, die man manchmal zügeln muss, um sie am richtigen Punkt zu entfachen. Deshalb der Mittelweg in den Proben, um im Konzert die letzten Sicherungen zu lösen. Und dann kann man noch im Extrem die Mitte suchen. (Gespräch mit Olaf Maninger, 2017)

MUSS DIE CHEMIE STIMMEN?

Professionalität ist Hingabe. An die Musik, an das Orchester, vielleicht auch umgekehrt an den Dirigenten. Für mich öffnen sich noch einmal Welten, wenn man nicht nur gut füreinander spielt, sondern auch gern. Ohne dieses „gern“ kann ich als Dirigent nicht existieren. (Gespräch mit Olaf Maninger, 2017)

Zusammenstellung von Christiane Peitz.

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