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Der amerikanische Musiker Ahmir "Questlove" Thompson porträtiert für den "Dust & Groove"-Bildband von Eilon Paz.
© Eilon Paz

Vinyl lebt: Paradies aus PVC und Pappe

Retro-Trend: Vinyl ist wieder in Mode, die Plattenspielerverkäufe steigen - Annäherung an ein buntes Nischenphänomen.

Neulich in einem Neuköllner Plattenladen. Eine junge Frau stöbert durch die Kisten. Mit leeren Händen kommt sie zum Tresen. „Ich suche von Nick Drake ,Bryter Layter’.“ Sie habe es im Schaufenster gesehen, aber unter „N“ nicht gefunden. Einige Sekunden später reicht der Verkäufer ihr ein Exemplar des Folk-Klassikers. „Steht unter ,D’“, erklärt er lächelnd.

Für Menschen unter 30 sind Plattengeschäfte in der Regel terra incognita, analoges Neuland sozusagen. Die Bedienung eines Plattenspielers ist für diese digital sozialisierte Generation keine selbstverständlich beherrschte Kulturtechnik mehr. Das Knistern von Vinyl kennt sie vor allem als Sample von Pop- und Hip- Hop-Alben. Junge Vinylfans sind selten, die Mehrheit schätzt den Komfort von Streaming-Anbietern wie Spotify. 20 bis 30 Millionen Songs allzeit verfügbar – da können die schwarzen Scheiben natürlich nicht mithalten. Sie haben dafür andere Qualitäten: Charme, Wertigkeit und Klangschönheit.

Das wissen inzwischen wieder mehr Musikliebhaber zu schätzen, die der Platte eine hübsche kleine Renaissance beschert haben. Weltweit stieg der mit Vinyl erzielte Umsatz von 35 Millionen US-Dollar im Jahr 2005 auf rund 347 Millionen Dollar im Jahr 2014. In Deutschland sind die Zahlen mittlerweile so gut wie seit Anfang der Neunziger nicht mehr. Im Jahr 2014 wurden 1,8 Millionen Platten verkauft. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 waren es 1,4 Millionen.

Zwar ist der Anteil von Vinyl am gesamten Markt mit rund drei Prozent gering – in Deutschland dominiert mit 60 Prozent Marktanteil noch immer die CD – und doch hat sich das lange totgesagte Medium in den letzten Jahren wieder einen stabilen Platz erkämpft. So erscheinen fast alle neuen Alben inzwischen auch wieder auf Vinyl, zahlreiche Klassiker werden neu aufgelegt – gern in teuren, extraschweren Ausgaben. Manche Label legen sogar noch einen Download-Code für die digitale Version des Albums bei. MP3-Dateien als Gratisbonus eines Uraltmediums – nicht gerade schmeichelhaft für ein Format, das einmal als die Zukunft der Musikindustrie galt.

Die Rückbesinnung auf das Vinyl hat auch mit dem Tonträgerdurcheinander zu tun, das im Digitalzeitalter entstanden ist. Kürzlich hat Max Scharnigg in seinem Essay „Adieu, Plattensammlung“ in der „Süddeutschen Zeitung“ anschaulich beschrieben, wie sich seine größtenteils aus CDs bestehende Musiksammlung nach und nach auf diverse Festplatten (und iPods) verlagerte und dort durch Downloads weiter anwuchs. Irgendwann hatte der Autor völlig den Überblick verloren, was sich wo befand. Als Ausweg entdeckte er Spotify. Doch seine anfängliche Begeisterung hielt nicht lange an: „Es war kein Schatz, es war nicht meine Musik. Es war eher individuelles Dudelradio“. Er wisse gar nicht mehr, wie er zu seiner Musik „Ich liebe dich“ sagen solle, schreibt Scharnigg am Ende resigniert.

Wer einst seine LPs gegen CDs tauschte, kauft jetzt wieder Platten

Platten eine Liebeserklärung zu machen, ist einfach. Man kann sie sogar streicheln und verträumt die Covermotive betrachten. Für Menschen, die den ganzen Tag auf Bildschirme starren, ist das eine willkommene Abwechslung. Die analoge Antithese. Vinyl entschleunigt und reduziert die Reizüberflutung – ständig aus Millionen von Songs auswählen zu können, kann auch als lähmende Überforderung empfunden werden. So kommt es, dass manch ein Musikfan, der einst all seine Platten verkaufte, um Platz für CDs zu schaffen und dann auf Downloads und Streams umstieg, nun beginnt, auf Flohmärkten und in Plattenläden seine alte Sammlung zu rekonstruieren.

Die Vinyl-Blüte ist Teil des Retrotrends

Und weil die Plattenspieler damals gleich mit entsorgt wurden oder zwischenzeitlich den Geist aufgaben, steigen auch hier die Absatzzahlen. So war etwa Amazons bestverkauftes Audio-Gerät in der Weihnachtszeit ein Plattenspieler mit eingebauten Lautsprechern. Überdies wird die 2010 eingestellte Produktion des legendären Technics SL-1210 in diesem Jahr wieder aufgenommen. Eine Nachricht, die nicht nur DJs beglückt.

Die Vinyl-Blüte ist Teil des von Simon Reynolds in seinem gleichnamigen Buch „Retromania“ getauften Nostalgie-Phänomens, das sich auf musikalischer Ebene in Stil- und Soundkopien spiegelt, sich aber auch in den Trends zu Vintage- Mode und -Möbeln ablesen lässt. Auch die hochwertige Papeterie erlebt derzeit einen kleinen Boom. Das Handgemachte, Ehrliche, Authentische spricht gerade vernetzte, gestresste Großstädter an, die zwar all ihre Daten in Clouds hochladen, aber zur abendlichen Erdung etwas Warmes, Greifbares suchen. Deshalb behaupten sich Bücher auch weiterhin gegenüber E-Books.

Plattensammlungen sind Erinnerungsspeicher

Sammlerin Sheila Burgel gehört zu den wenigen Frauen in Eilon Paz’ „Dust & Groove“-Bildband.
Sammlerin Sheila Burgel gehört zu den wenigen Frauen in Eilon Paz’ „Dust & Groove“-Bildband.
© Eilon Paz

Schöner Nebeneffekt: Eine Plattensammlung sieht gut aus und erzeugt Distinktionsgewinne. Mit einem Streaming-Abo kann man niemanden beeindrucken, mit dem Beatles-Gesamtwerk auf Vinyl schon eher. Am besten wissen das natürlich die Sammler, die ihre Leidenschaft für das schwarze Gold schon lange hegen und sich von digitalen Versuchungen nie davon abbringen lassen würden. Menschen, in deren Wohnungen kein Zentimeter Wand mehr zu sehen ist, weil die Plattenregale bis unter die Decke reichen, die Jagd auf rare Erstpressungen machen und an keiner Plattenkiste vorbeigehen können, ohne sie durchzublättern.

Einige von ihnen hat der israelische Fotograf Eilon Paz in seinem kürzlich erstmals auf Deutsch erschienenen wunderbaren Prachtband „Dust & Grooves – Plattensammler und ihre Heiligtümer“ (Eden Books, 448 Seiten, 49,90 €) porträtiert. Mehrheitlich sind es Männer über 30, die mit ihren Lieblingsstücken vor ihren Regalen posieren. Sie sehen stolz und glücklich aus in ihren bunten Universen aus Pappe und PVC. Die meisten der über 130 Sammler haben Spezialgebiete, die sie immer weiter ausbauen:  Der Amsterdamer Edo Bouman sammelt Bollywood- Soundtracks, die New Yorkerin Sheila Burgel 60s-Girl-Pop, der Istanbuler Mustafa Anaz hat massenhaft Psychedelic-Rock aus seiner Heimat angehäuft und der 1936 geborene Amerikaner Joe Bussard hat eine unfassbare Menge von Country- Jazz und Bluegrass auf 78er-Platten. Sogar einen jungen Mann, der nur Vinyl mit Sesamstraßen-Bezug sammelt, hat Eilon aufgestöbert.

Ihre Sammlungen sind nicht nur riesige Pop-Kultur-Archive, sondern auch persönliche Erinnerungsspeicher. Die manchmal abenteuerliche Beschaffung einer Platte lädt die Musik mit zusätzlicher Emotionalität auf. In einem der „Dust & Groove“-Interviews berichtet etwa „Ahmir „Questlove“ Thompson, Schlagzeuger, der Hip-Hop-Band The Roots und Bandleader der „Tonight Show with Jimmy Fallon“, wie er als zehnjähriger Junge einmal „Trans-Europe Express“ von Kraftwerk im Radio hörte, sich den Titel aber nicht recht merken konnte und anschließend alle Plattenläden in Philadelphia abklapperte und fragte, ob sie „Hmm-hmm Express“ kennen. „Ein DJ im ,Sound of Market Street’ wusste endlich, wovon ich sprach“, erinnert er sich. Seine Mutter kaufte ihm die Platte, die nun neben weiteren Werken der Düsseldorfer Gruppe in seinem Plattenlager steht. Insgesamt besitzt er gut 75 000 Platten.

Die wenigen verbliebenen Presswerke arbeiten am Limit

Sammler wie Questlove kaufen gezielt ein, in Läden, auf Plattenbörsen wie in Utrecht oder auf Online-Plattformen wie Discogs, wo auch schon mal vierstellige Euro-Beträge für seltene Stücke aufgerufen werden. Doch wen einmal die Sucht gepackt hat, der macht sich immer wieder auf die Suche nach neuen Schätzen. Dieses Digging ist gleichermaßen Quelle der Freude und Frustration für Vinylfreaks. Dass das Angebot limitiert ist, macht einen Teil der Faszination aus.

Bei der derzeitigen Platten-Renaissance spielt das ebenfalls eine Rolle. Es gibt nur noch wenige Presswerke, und die arbeiten an ihren Kapazitätsgrenzen. Die meist über 30 Jahre alten Maschinen laufen Tag und Nacht. Geht etwas kaputt, sind die Unternehmen auf sich allein gestellt, denn die Hersteller sind längst nicht mehr im Geschäft. So übersteigt die Nachfrage nach Platten derzeit das Angebot. Das Risiko, eine neue Firma zu gründen, die Pressmaschinen fertigt, scheut die Branche bisher. Es ist eben eine Blüte in der Nische. Und so werden viele jetzt gepresste Platten in ein paar Jahren schon wieder gesuchte Sammlerstücke sein.

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