Preis für Politiker Leoluca Orlando: „Palermo ist wie Beirut“
Der Mafiajäger und europäische Menschenrechtler Leoluca Orlando hat in Berlin den „Friedrich II von Hohenstaufen-Preis“ der Deutsch-Arabischen Gesellschaft erhalten.
Signor Orlando, Sie haben die Mafia nach dem Tod der Richter Falcone und Borsellino mit allen Mitteln bekämpft und wurden viele Jahre von Sicherheitsbeamten in der Stärke einer Fußballmannschaft begleitet. Wie haben Sie diese Zeit überstanden?
Hundert Jahre hat die Mafia die Stadt regiert. Damals war der Bürgermeister Freund des Mafiabosses. Manchmal war er auch selbst der Mafiaboss. Sie können sich vorstellen, wie schwierig das Leben war. Aber Palermo hat sich verändert. Heute ist es die fünftgrößte Stadt des Kulturtourismus in Italien. Und das bei Konkurrenten wie Venedig, Florenz oder Rom.
Die Mafia ist weitgehend abgetaucht, sie ist unsichtbar geworden. Man findet sie noch im Glücksspiel, in der Internetkriminalität, im Drogenhandel. Wie gehen Sie heute damit um?
Wir haben in Palermo 1500 Paläste. Viele stehen leer, sind verfallen. Die Mafia hat die Bewohner vertrieben, die Paläste bewusst verkommen lassen Die Menschen wurden gezwungen, in seelenlosen Hochhäusern zu wohnen, wo die Kriminellen Miete abkassierten. Brutal. Aber wir haben begonnen, die Palazzi wiederaufzubauen. Zum Beispiel den Palazzo Butera, der jetzt von der europäischen Wander-Biennale Manifesta als Ausstellungsort genutzt wird.
Palermo gilt als leuchtendes Gegenbild der Krise und des Niedergangs, der derzeit Italien lahmlegt. Was ist bei Ihnen anders?
Machen Sie sich keine Illusionen über Palermo. Natürlich haben wir viele Probleme. Palermo ist keine europäische Stadt. Es ist eine nahöstliche Stadt mitten in Europa. Palermo ist Beirut, Istanbul, Tripoli.
Aus seiner prekären Lage, seiner Zentrumsfunktion inmitten dreier Kontinente – Europa, Asien, und Afrika -, bezieht Palermo seine Identität und seinen Stolz. Welche Bedeutung hat Palermos Vergangenheit für die Gegenwart?
Palermo hat eine enge Verbindung mit Friedrich dem Zweiten, dem Stauferkönig, der perfekt arabisch sprach, einem politischen Genie, das fast nebenbei König von Jerusalem wurde – ganz ohne Krieg. Wir hatten hier in Palermo eine großartige arabisch-normannische Zeit und sind dafür von der UNO als Weltkulturerbe anerkannt worden. Normalerweise haben Araber und Normannen ja überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Aber in Palermo gibt es diesen historischen arabisch-normannischen Kunststil, in dem beide Kulturen zusammenkommen.
Palermo gilt als Ideal: nicht Multikulti, nicht das viel beschworene Nebeneinander der Kulturen, sondern ihre authentische Verschmelzung zu etwas Neuem. Eine wahr gewordene Utopie. Wie sieht das heute aus?
Glauben Sie nicht, dass wir es vor allem wegen unserer Vergangenheit zum Weltkulturerbe gebracht hätten. Wir hatten vorher auch schon tausend Denkmäler. Nein, wir haben diese Anerkennung bekommen, weil wir heute in einer Stadt leben, wo der Hund, die Katze und die Maus zusammen spazieren gehen. So sicher und tolerant geht es bei uns zu. Bei uns rufen auch die Muslime die Polizei, wenn es ein Problem mit Extremisten gibt.
Hund, Katze, Maus – das klingt nach Disney. Wie stellt sich das im Alltag dar?
Als die Mafia Palermo regierte, gab es keine Ausländer in in der Stadt. In den ersten dreißig Jahren meines Lebens habe ich hier keine Ausländer gesehen. Diese Kriminellen sind gegen Menschen, die anders sind. Die Mafiosi sind für die ,Reinheit’ einer bestimmten Rasse, so wie die Nazis für den ,reinen’ deutschen Menschen waren. Erst als wir Erfolg im Kampf gegen die Mafia hatten, sind die Migranten gekommen. Denn ich bin nicht Mafioso. Und ich denke, dass die Migranten genauso Menschen sind wie die, die in Palermo geboren sind. Wenn man mich fragt, wie viele Migranten nach Palermo gekommen sind, antworte ich nicht: 60 000 oder 100 000. Ich sage: keiner. Wer nach Palermo kommt, ist Palermitaner.
Manchmal stehen Sie selbst im Hafen und begrüßen die Neuankömmlinge aus Afrika oder der Levante per Handschlag. Sie haben damit eine eigene Willkommenskultur erfunden, die Palermo in Italien und darüber hinaus bekannt gemacht hat. Woher kommt das?
Wir Palermitaner sind niemals Rassisten gewesen. Deshalb bin ich stolz, Bürgermeister von Palermo zu sein.
Orlando holt eine von ihm verfasste Broschüre hervor, auf der „Charta von Palermo“ steht und „Internationale Freizügigkeit von Menschen“. Sie wurde im März 2015 von der Stadtregierung gedruckt, als der Ansturm von Flüchtlingen auf Europa trotz der Boote aus Nordafrika noch nicht voll begonnen hatte. Das Recht auf Asyl, politische Teilhabe und kulturellen Austausch wird darin als neues Staatsbürgerrecht verbrieft.
Die Mafia ist ein pervertiertes kulturelles System, ein pervertiertes finanzielles, politisches, religiöses System. Wir wollen eine Kultur des Rechts. Palermo war einmal Hauptstadt der Illegalität, jetzt ist es Hauptstadt des Rechts und der Menschenrechte.
Welche Rolle spielt dabei die Kunst?
Die Kunst ist mir wichtig. Deshalb freue ich mich, dass wir 2018 italienische Kulturhauptstadt sind und dass wir die europäische Wander-Biennale Manifesta zu Gast haben. Wir werben auf vielen Plakaten für die Manifesta – aber nicht mit Kunstwerken, sondern mit den Gesichtern von Menschen aus unserer Stadt. Wussten Sie, dass die meisten Migranten aus Bangladesch kommen?
Was bringt die Manifesta Palermo und umgekehrt?
Eine wunderschöne Synthese, eine gegenseitige Befruchtung, eine Ansteckung. Ich hoffe, wir werden Migranten sein – je stärker, desto besser. Was heißt Manifesta? Eine Wanderausstellung, eine Migrantin. Eine Ausstellung wie die Manifesta könnte keine bessere Stadt finden als Palermo. Denn Palermo ist eine Migrantenstadt. Und auf die Frage: Wie viele Migranten es in Palermo gibt, sage ich: ein oder zwei Millionen. Denn wir sind alle Migranten.
Zur Bestätigung, dass dies immer schon so war, verweist Orlando in seinem Vorzimmer auf die Statue eines dunkelhäutigen Mannes, der ein weißes Baby auf dem Arm trägt – fast wie eine Madonna.
Traditionell ist die Heilige Rosalia die Schutzpatronin der Stadt. Aber vor 400 Jahren haben die Einwohner von Palermo entschieden, dass sie auch noch einen männlichen Schutzheiligen haben wollten, den Heiligen Benedikt, der schwarz war, ein Afrikaner. Er war der Sohn eines Sklaven, der im Hafen von Palermo verkauft wurde. Für mich ist er sehr wichtig, denn er erinnert daran, dass Palermo seit langer Zeit eine Stadt ist, in der alle willkommen sind.
Werner Bloch
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität