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Am helllichten Tag. Noch immer mordet die Mafia in Sizilien. Aber ihre Hauptgeschäfte macht sie heute mit Wirtschaftsbetrug, Waffen- und Drogenhandel.
© Mike Palazzotto

Mafia: Italiens Schande

Schlag auf Schlag: Erst wurde der "Boss der Bosse" verhaftet, dann sein Stellvertreter, dann die mittlere Führungsebene. Endlich, dachten viele, ist die Mafia besiegt. Es war ein Irrtum. Das organisierte Verbrechen in Sizilien lebt weiter, nur die Methoden haben sich geändert.

Die Morgensonne gießt warmes Licht über den Justizpalast von Palermo. Vor seinen Toren stehen Carabinieri, schwer bewaffnet. Mit versteinerter Miene kontrollieren sie Ausweise, sprechen in ihr Walkie-Talkie und winken Besucher zur Eingangstür weiter, wo Gepäckstücke durchleuchtet werden. Dahinter tun sich lange Gänge im Neonlicht auf. In einem der oberen Stockwerke arbeitet Roberto Scarpinato.

Vor seinem Büro sitzen fünf Leibwächter, Jeans, Turnschuhe, Jacket. Die Eichenholztür ist schusssicher, daneben hängt eine Videokamera. Scarpinato kann die Tür von seinem Schreibtisch aus öffnen. Er trägt sein grau meliertes Haar zurückgekämmt, sitzt hinter unzähligen Aktenbergen, hat alle paar Minuten sein Handy am Ohr und einen durchdringenden Blick.

Er sagt: „Wenn es für die Politik opportun ist, dann werde ich getötet.“

Der 57-jährige Roberto Scarpinato ist einer der führenden Mafia-Jäger Italiens. Seit mittlerweile 20 Jahren steht der leitende Staatsanwalt Tag und Nacht unter Polizeischutz. Seit jener Zeit also, da die Cosa Nostra, die sizilianische Mafia, auf den Straßen blutige Spuren hinterließ. Fast täglich wurden Menschen erschossen. Mehr als 1000 Tote hatte die Cosa Nostra in den 80er Jahren allein in Palermo zu verantworten. Damals begannen sich die Bürger zu wehren. Privatpersonen, Gewerkschaftler und Studenten protestierten gegen den Terror und gründeten Aktionsbündnisse. In Palermo wurde 1985 einer der bekanntesten Mafiagegner, Leoluca Orlando, Bürgermeister und blieb das bis ins Jahr 2000. Doch die Mafia mordete weiter: Im Mai 1992 wurde der Richter Giovanni Falcone getötet, zwei Monate später sein Kollege Paolo Borsellino.

Die blutigen Zeiten sind vorbei. Die Cosa Nostra aber existiert nach wie vor, nur hat sie ihren Stil geändert. Sie ist unsichtbar, ihre Aktivitäten heißen Wirtschaftsbetrug, Drogen- und Waffenhandel – und sie ist zur Normalität im sizilianischen Leben geworden. Ihre Waffe ist die Allgegenwart.

An staatliche Fördermillionen gelangt in Sizilien oft nur der Unternehmer, der in mafiöse Beziehungsnetze eingebunden ist, der über die Freunde seiner Freunde den entscheidenden Politiker kennt, der Personal beschäftigt, das ihm der Mafioso empfiehlt oder Aufträge an Firmen weitergibt, die der Mafia gehören. Es sind die Verbindungsleute zwischen Legalität und Illegalität, die das Netz zusammenhalten. „Weiße Kragen“, äußerlich unverdächtige Steuerberater, Anwälte, Ärzte, Architekten und zunehmend auch Politiker. So ist die Cosa Nostra zu einer Parallelgesellschaft geworden, Scarpinato nennt sie die „weiße Mafia“.

„Die weiße Mafia“, sagt er, „ist mittlerweile eine eigene Gesellschaftsklasse.“

Und er ärgert sich über diejenigen, die das nicht begreifen, wie die deutschen Behörden. Deutschland sei „ein Paradies für Geldwäsche“, sagt er. In Italien kann Mafia-Eigentum und -vermögen konfisziert werden, wenn ein Verdächtiger nicht nachweisen kann, dass er Gelder und Besitz legal erworben hat. „Wir haben die Beweislast umgedreht. In Deutschland aber liegt die Beweislast bei der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungsbehörden können deshalb nicht schon bei Verdacht zugreifen“, sagt Scarpinato. Es gebe ein mangelndes Bewusstsein bei deutschen Behörden für die Aktivitäten der Mafia.

Dass Deutschland zu passiv sei, zu untätig, sagt auch Laura Garavini, 43, Deutsch-Italienerin, die unter anderem in Berlin lebt und 2008 ins römische Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Sie gehört zur oppositionellen „Demokratischen Partei“ und ist im Antimafia-Ausschuss tätig. „Schmutzige Gelder werden in Deutschland investiert und reingewaschen“, sagt sie, „nicht nur in Pizzerien, sondern auch durch den Kauf von Immobilien. Der Verfolgungsdruck muss größer werden.“

Immerhin hat 2009 die große Koalition noch vor ihrem Ende einen EU-Beschluss in nationales Recht umgesetzt, das den Einzug von Mafiabesitz erleichtert. Wenn ein Gericht in Italien einen Mafioso verurteilt und den Verfall seines Gewinns aus Mafia-Geschäften anordnet, werden auch umgehend seine deutschen Konten gesperrt. Bei weniger als 10 000 Euro verbleibt das Geld beim deutschen Staat. Ist es mehr, teilen sich die Länder den Betrag. Auch mafiaverdächtige Immobilien können nunmehr in Deutschland konfisziert werden.

Scarpinato nennt dieses Gesetz zwar einen wichtigen Schritt in der internationalen Bekämpfung, weist aber auch auf den zunehmenden Einfluss der Mafia in der Politik hin. „Es muss viel mehr Politikern in Italien der Prozess gemacht werden.“

Und so glauben nicht viele Sizilianer daran, dass die Cosa Nostra, zu der 5000 Mitglieder, Unterstützer und Zuarbeiter zählen, je besiegt wird. Sie überstand mehrere Verhaftungswellen, Mafiabosse wurden nach und nach abgeurteilt, eingesperrt, aber noch immer ist sie da.

Und wo sie ist, ist auch Letizia Battaglia. Die Mafia-Fotografin. Sie fotografierte in den 80ern die Tatorte, rund 600 000 Schwarzweißaufnahmen, die Blut zeigen, zerschossene Körper, Täter und Opfer, Witwen, Mafia-Ehefrauen mit hartem, stolzem Blick oder Mafiajäger wie Scarpinato.

Letizia Battaglia, heute 75 Jahre alt, zündet sich eine Zigarette nach der nächsten an, schnippt die Asche in einen Messingaschenbecher, der auf einem schweren Holztisch in ihrer Maisonettewohnung im achten Stock unweit des alten Gefängnisses Ucciardone steht. „Das System ist korrupt. Wenn sich heute Personen öffentlich zur Mafia äußern, werden sie gesellschaftlich isoliert. Und das ist die schlimmste Strafe“, sagt sie. Auch sie selbst, Künstlerin von Weltruf, existiere in ihrem Land nicht. Die Mafia sitze in den Köpfen der Menschen, in den Verwaltungen, in der Politik. „Diese korrupte Klasse versucht, das Volk zu korrumpieren“, sagt Letizia Battaglia. Das sei barbarisch.

Tatsächlich blieb der erwartete „Aufstand der Bevölkerung“ gegen die Mafia aus, als 2006 nach 43-jährigem Versteckspiel der „Boss der Bosse“, Bernardo Provenzano, aufflog und danach Schlag auf Schlag die mittlere Führungsebene und die Aufsteiger der Mafia abgeräumt wurden. Erst vor einigen Monaten fasste die Polizei Domenico Raccuglia, die vermeintliche Nummer zwei. Im Dezember ging Palermos Mafiaboss Giovanni Nicchi ins Netz der Fahnder. Und doch sagen auch italienische Regierungspolitiker, wenn sie sich nach den jüngsten Verhaftungen selbst loben, die Cosa Nostra habe schon andere Todesstöße überlebt.

Sie herrscht nicht nur mit Angst und Schrecken. Ihre Forderung, Pizzo zu zahlen, Schutzgeld, ist nicht nur Erpressung: Wer zahlt, erkauft sich auch Vorteile. Er tritt ein in ein großes Beziehungsnetz, das ihm Ruhe vor Kleinkriminellen oder Konkurrenz garantiert, das ihm Arbeitsstellen für seine Kinder verschafft, das ihm einen Parkplatz sichert, einen kurzen Dienstweg in der Verwaltung oder eine schnelle ärztliche Behandlung. Und wer dieses Schutzgeld zahlt, akzeptiert damit auch die Mafia. Es ist ein stillschweigendes Geschäft.

Vor sechs Jahren wollten ein paar Studenten eine Kneipe eröffnen. Sie diskutierten, was zu tun sei, wenn die Mafia von ihnen Schutzgeld verlangen würde. Wie sie reagieren sollten auf die Einladung zum Stillhalteabkommen mit dem Bösen. Ihre Antwort darauf schrie den Palermitanern an einem Junimorgen überall in der Stadt, von Lampenmasten, Telefonzellen, Hauswänden entgegen: „Ein Volk, das Pizzo bezahlt, ist ein Volk ohne Würde.“

Diese Gruppe von Studenten hatte beschlossen, nicht den Mund zu halten. Sie gründeten die Antischutzgeld-Organisation „Addio Pizzo“, aus der die im Verborgenen arbeitende Vereinigung „Libero Futuro“, die Unternehmern hilft, hervorging. Wer sich gegen Schutzgeldzahlungen wehren will, wird dort beraten.

Als die Polizei vor ein paar Monaten Mafiosi festnahm, applaudierten junge Leute vor den Polizeiwachen. Es waren Mitglieder und Anhänger von „Addio Pizzo“. Sie klatschten, beglückwünschten die Spezialeinheit „Squadra mobile“ zu ihrem Fahndungserfolg und sangen die italienische Nationalhymne. „Wir wollten damit zeigen, dass die Mafiawelt anders ist als unsere Welt“, sagt der 21-jährige Student Alessio von Addio Pizzo. Die Nationalhymne sollte symbolisieren, dass man „für ein freies Italien ohne Mafia“ eintrete.

„Addio Pizzo“ ist keine Massenbewegung. Sie hat einen kleinen Kern von 30 Aktiven, aber, wie die jungen Leute sagen, 10 000 Anhänger. Die jungen Leute, Studenten oder Akademiker zwischen 20 und 35, arbeiten ehrenamtlich und haben ihre Zentrale in einem unauffälligen Mietshaus im Norden von Palermo, in einem bürgerlichen Viertel mit kleinen Geschäften und Restaurants. Ihr Büro ist eine große Wohnung, die aus konfisziertem Mafia-Besitz stammt und ihnen von der Kommune zugewiesen worden ist. „Das ist schon irrwitzig, dass wir ausgerechnet da arbeiten, wo ein Mafioso wohnte“, sagt Eduardo, „aber das ist ein gutes Omen.“

407 Läden, Hotels, Restaurants in Palermo – darunter jedoch keine Autohändler, Apotheken oder Banken – haben sich inzwischen „Addio Pizzo“ angeschlossen. Sie sind verzeichnet in einem speziellen Reiseführer, dem „Addiopizzo Guide for the Critical Customer“. Die Aktivisten hoffen, dass möglichst viele Touristen ihren Mut unterstützen. Denn Unterstützung ist nötig. 407 Geschäfte sind wenig bei rund 90000 Unternehmern in Palermo. Nach Polizeiangaben zahlen 70 bis 80 Prozent aller Geschäftsleute immer noch Pizzo, bis zu 200 Millionen Euro fließen dadurch jährlich an die Cosa Nostra.

Am Abend in einem Ausgehviertel von Palermo, in La Kalsa, das früher wegen der vielen Straßenüberfälle berüchtigt war. Mit EU-Fördermitteln hat man in den vergangenen Jahren ganze Straßenzüge restauriert, hier treffen sich Studenten, Akademiker, Selbstständige und Angestellte in den vielen kleinen Restaurants. Auch in der „Antica Focacceria San Francesco“ in dem schmalen Gässchen Via A. Paternostro, an deren Fenster der Aufkleber von „Addio Pizzo“ klebt. Ein paar Mal am Abend fährt ein Polizeiwagen vorbei.

„Das ist natürlich nur symbolisch“, sagt ein 35-jähriger Sizilianer, der sich Piero nennt. „Wenn die Mafia zuschlagen will, macht sie es auch.“ Piero arbeitet im väterlichen Getreidebetrieb mit. Ob sein Vater Schutzgeld zahlt? Piero grinst, zieht die Schultern hoch und sagt „keine Ahnung“. Nach zwei weiteren Bieren erzählt er von einem „entfernten Verwandten“, der wegen „irgendwelcher Mafia-Kontakte“ im Knast sitzt.

Und so ist auch im „Addio-Pizzo“-Restaurant der Geist zu spüren, den der Staatsanwalt Scarpinato, die Abgeordnete Garavini, die Fotografin Battaglia beklagen. Dass die Mafia mit ihren eigenen Gesetzen, ihrem System aus Geben und Nehmen die Menschen durchdrungen hat. Dass auch diejenigen, die dagegen sind, nur selten laut sprechen, weil sie die Omertà, das Schweigegelübde der Mafia, tief verinnerlicht haben.

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