Berlinale: Forum: Ozeanische Gefühle
Seelenlandschaft, Sehnsuchtsort, Arbeitsplatz: Filme im FORUM loten den Mythos Meer aus. Mal bedienen sie sich der ganzen atmosphärisch-visuellen Pracht, mal nur des Donner-Sounds der Wellen.
Vom Azorenhoch ist nicht viel zu sehen auf den Azoren. Die Gischt schäumt, bleigrau türmen sich die Wolken, tropfnass ist das Ölzeug der Männer. Fischen ist ein Knochenjob. Seefahrerromantik war gestern. Auch wenn die portugiesische Dokumentation „Rabo de Peixe“ mit einer zerfledderten antiken Seekarte der im Atlantik zwischen Europa und Amerika gelegenen Inselgruppe beginnt. Auch wenn der Erzähler im Off zu den zwischen 1999 und 2001 gedrehten Bildern aus dem Leben des jungen Fischers Pedro und seiner Kollegen in dem Hafenort, nach dem der Film heißt, von der kulturellen Bedeutung dieses altehrwürdigen Handwerks erzählt. Auch wenn er die französische Philosophin Simone Weil beschwört, die 1934 die Arbeit des Fischers als die eines freien Mannes beschworen hat. Niemandes Herr und niemandes Knecht. Nur den Wogen, Wettern und Makrelenschwärmen untertan. Und – der Konkurrenz der industriellen Fabrikfangschiffe, die Joaquim Pintos und Nuno Leonels liebevolles Porträt einer reinen Männerkaste zu einem historischen Dokument versunkener Arbeitswelten gemacht haben.
Der Ozean als Arbeitsplatz, als scheinbar vom Menschen zu kontrollierende Naturgewalt, als historischer Mythen entkleidete Transportzone und gleichzeitig als Urmutter aller Metaphern von Freiheit, Entgrenzung, Verwandlung, als Projektionsfläche, Sehnsuchtsort, Seelenlandschaft – das ist ein motivischer Schwerpunkt im Forum. In desillusionierenden und mythisierenden Spielfilmen und Dokumentationen, die sich mal der ganzen atmosphärisch-visuellen Pracht des Sujets bedienen und mal nur den Donner-Sound der Wellen wirken lassen.
Griechische Regisseurin Evangelia Kranioti mit poetisch verdichteter Doku
Der bildmächtigste Forum-Meerfilm ist der ebenfalls die See als Arbeitsplatz beschreibende „Exotica, Erotica, Etc.“ der griechischen Regisseurin Evangelia Kranioti. Ihre poetisch verdichtete, essayhafte Dokumentation singt das hohe Lied des Meeres und der Liebe Wellen. Ganz wörtlich. Die Vogelperspektive, die die Kamera auf Containerschiffen einnimmt, mit denen die Regisseurin 16 Länder bereiste, schafft überwältigende Bilder. Das Schiff, eine – im Gegensatz zur organischen Wasserwüste – atemberaubende, grafische, metallische, elektronische, mechanische, hehre und banale Männerwelt. Visuell überhöht und durch Matrosenmonologe aus dem Off und das nicht enden wollende Sehnsuchtsparlando der verwitterten Hafenprostituierten Sandy relativiert und mystifiziert. Eine kalt-warme Kombination, die zwiespältige Gefühle weckt. Weil es nicht nur in seligen Segelschifferzeiten, sondern auch heute nach wie vor die Frauen sind, die ewig wartend in den Häfen hängenbleiben.
Junge, komm’ bald wieder, bald wieder nach Haus’. Doch was ist, wenn Matrosen oder Fischer nicht heimkehren? Weil auf dem Meer irgendetwas passiert ist. Ein Geheimnis, das nur die See, die auch Mordsee ist, kennt. So geschieht es im kalmückischen Drama „Chaiki“, das am Kaspischen Meer spielt. Genauer in einem Dorf in der Steppe, die am Kaspischen Meer und seinen mit dichtem Schilf bewachsenen Seitenarmen liegt. Keine offene See, nirgends. Jedenfalls nicht für Elza, die kinderlose und alsbald auch verwitwete Fischersfrau. Still ist sie, gefroren wie die Meeresränder. Statt Aussicht nichts als Nebel. Bitter ist es am Meer zu leben, ohne je den Horizont zu sehen. Nicht mit den Männern rauszufahren, sondern Gefangene von Konventionen und Alltagsroutine zu sein. Regisseurin Ella Mazheeva zeigt Kalmückien als Leerstelle und bleiernen Gemütszustand. Bis sich der Film endlich zu einer poetischen Selbstbefreiung aufschwingt. Bis sich Elza verwandelt und das unerreichbar scheinende Meer zu ihr kommt. In Gestalt von Fischen, die durch ihre Waschschüssel flitzen.
"Beira-Mar": Brasilianisches Coming-of-Age-Drama
Am Meer jenseits des Meeres, jenseits verheißender Freiheit zu sein, das erleben auch die Jungs im brasilianischen Coming-out- und Coming-of-Age-Drama „Beira-Mar“. Die spröde, bestechend genau beobachtete Winterelegie der Filmemacher Filipe Matzembacher und Marcio Reolon erzählt von zwei Kumpels, die ein paar Tage im elterlichen Wochenendhaus des einen verbringen. Für ihn ein traumatisierter Ort, direkt am brausenden Meer. Der Ozean scheint zu öde für die beiden zu sein, erweist sich dann aber als verbotener Ort. Nur wer lernt, die innere Kapsel aus Kindheitsmustern und Tabus zu sprengen, kann der Urgewalt des Ozeans die blanke Brust zeigen. Eine Taufe, die keinen neuen, aber einen freieren Menschen schafft.