Berlinale: Forum und Panorama: Mutter, was machst du?
FORUM und PANORAMA erforschen komplizierte Familienkonstellationen, von der Oberschicht bis zur Arbeiterklasse. Eine alleinerziehende Mutter sollte dabei zum Publikumsliebling werden.
Er wird Kanonen-Mann genannt: Pedro, der Star des kleinen Wanderzirkusses, lässt sich allabendlich mit lautem Knall aus einem gewaltigen Kanonenrohr katapultieren, in das er sich vorher elegant hineingehangelt hat. Wenn er sicher im Netz unter der Zirkuskuppel landet, jubelt das Publikum. Die Bewohner der verträumten Insel vor der brasilianischen Küste wissen Abwechslung zu schätzen, und noch dazu ist Pedro einer von ihnen: Als er neun war, hat seine Mutter ihn mit dem Zirkus weggeschickt, und jetzt ist er nach 20 Jahren zurückgekommen, auch um herauszufinden warum.
„Sangue Azul“ eröffnet am heutigen Donnerstagabend das Panorama. Es ist ein Film der berauschenden Bilder – sinnenverwirrende Zirkusnummern, gewaltige Unterwasserpanoramen, schöne Menschen beim Sex in allen möglichen Konstellationen – aber es ist auch ein überladener, unentschlossener Film, der eher seine Protagonisten ausstellt als eine Geschichte erzählt.
Kritische Sozialkomödie: „Que Horas Ela Volta?“
Genau dieses aber tut aufs Amüsanteste ein weiterer brasilianischer Panorama- Film, der von einem ähnlichen Konflikt ausgeht: Eine alleinerziehende Mutter hat ihr Kind weggegeben. „Que Horas Ela Volta?“ ist eine Sozialkomödie mit kritischem Unterton, die vollkommen auf ihre Heldin Val, eine Hausangestellte in ihren Fünfzigern, zugeschnitten ist. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, wird die resolute, warmherzige, konservative und unglaublich witzige Val zu einem Publikumsliebling dieser Berlinale avancieren. Dargestellt wird sie vom Multitalent Regina Casé, die in Brasilien seit den 70ern als Theater-, Film- und Fernsehseriendarstellerin präsent ist und von subtiler Ironie bis zum groben Slapstick alle Varianten des Komischen souverän beherrscht.
Val arbeitet bei einer wohlhabenden Familie in São Paulo. Den jetzt 17-jährigen Sohn des Hauses, Fabinho, hat vor allem sie von Kindheit an aufgezogen, da seine Mutter ihre Fernsehkarriere verfolgt hat. Ihre eigene Tochter Jessica indessen hat sie in der Provinz bei einer Freundin gelassen. Als Jessica sich bei Val anmeldet, weil sie demnächst ein Studium in São Paulo beginnen will, gerät die Hausgemeinschaft aus dem Gleichgewicht. Die muntere junge Frau ist nicht bereit, sich dem bisher unstrittigen Reglement zu unterwerfen, in dem es vor allem um die Rechte und Pflichten des Personals geht. Zum Entsetzen nicht nur Vals bricht Jessica fortwährend die ungeschriebenen Gesetze. Außerdem muss Val, die Fabinho tröstet, wenn er Liebeskummer hat und ihn in den Schlaf krault, feststellen, dass ihre Tochter ein eher kühles Verhältnis zu ihr hat. Wie aber Val ihrem Unmut Luft macht, wie sie grummelnd ihren Pflichten nachkommt, wie sie die ihr fremd gewordene Tochter hinter deren Rücken nachäfft, wie sie hin- und hergerissen ist zwischen Stolz auf das selbstbewusste Geschöpf und Scham über deren Ansprüche und Attitüden, das veranschaulicht Regina Casé in einer großartigen Performance.
Frauen in der iranischen Mittelschicht
Traurig geht es im iranischen Film „A Minor Leap Down“ zu, der sich ebenfalls mit der Abwesenheit eines Kindes beschäftigt: Die werdende Mutter Nahal erfährt während ihrer Schwangerschaft, dass ihr Kind nicht mehr lebt und der Fötus entfernt werden muss. Dies ist der Beginn eines langen Schweigens und stillen Aufbegehrens gegen die Familie, ihren Mann und die sozialen Normen, denen sich ihr Umfeld unterworfen hat. „A Minor Leap Down“ ist ein Film, in dem es innen wie außen kalt und hell ist; ungemütlich, abweisend, bedrohlich wirkt die Stadt, durch die Nahal wie in Trance fährt, und ihr Zuhause, wo bereits die gepackten Umzugskisten stehen, bietet ihr keine Zuflucht mehr. Nahal schweigt, und ihr Mann Babak ist überfordert, er hat keine Ahnung, wie er seiner Frau nahekommen kann. Die Verwandtschaft stößt sie mit einer Einladung ohne Essen vor den Kopf – ein Affront in einem Land, in dem überbordende Gastfreundschaft zum kulturellen Selbstverständnis gehört. „A Minor Leap Down“ porträtiert nicht nur die Frauen in der bürgerlichen iranischen Mittelschicht, sondern erzählt von den Restriktionen, denen diese sich selbst unterworfen haben – ein spannender, in seiner Kargheit verstörender Film.
Abwesende Väter in der Türkei und Korea
Um zwar physisch vorhandene, aber dennoch abwesende Väter geht es in zwei Forums-Filmen, dem türkischen „Nefesim kesilene kadar“ und dem koreanischen „End of Winter“. In beiden Filmen weigern sich die Väter, ihren familiären Pflichten nachzukommen, ohne dass dies erklärt wird.
Die junge Istanbuler Textilarbeiterin Serap möchte unter allen Umständen ihren unsteten Vater dazu bringen, mit ihr zusammen eine Wohnung zu mieten, damit sie endlich nicht mehr auf ihre ungeliebte Schwester angewiesen ist. Serap spart all ihr Geld für die Kaution, und wenn ihr Vater von einer seiner Lkw-Touren zurückkommt, hält er sie immer wieder hin. Das Debüt der Regisseurin Emine Emel Balci ist ein gelungener Working-Class-Film mit einer starken Heldin. Dagegen nimmt der koreanische „End of Winter“ wieder die Mittelschicht in den Blick: Ein soeben pensionierter Lehrer erklärt nach der Entlassungsfeier seiner Frau, dass er sich scheiden lassen möchte und versinkt dann in Schweigen. Da draußen ein Schneesturm tobt, muss die extra angereiste Familie im kleinen, in einer Provinzstadt gelegenen Haus des Vaters trotzdem zusammenbleiben: Vater, Mutter, zwei Söhne und eine Schwiegertochter gehen einander gründlich auf die Nerven. Manchmal werfen sie Schneebälle auf die Bäumen vor dem Haus.
Dieses rätselhafte Bild bleibt noch lange im Gedächtnis – es scheint auf die Ratlosigkeit hinzuweisen, in die der Vater seine Familie gestürzt hat, und es regt zum Nachdenken über die Institution der bürgerlichen Familie schlechthin an, die offenbar überall auf der Welt infrage gestellt wird.
Daniela Sannwald