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Fatales Erbe. Al-Kaida-Chef Osama bin Laden 1998 bei einer Pressekonferenz im afghanischen Khost.
© dpa Mazhar Ali Khan/AP

Globaler Bürgerkrieg: Osama bin Ladens heimlicher Sieg

"Ground Zero": Stefan Weidner erklärt in einem provokanten Essay, warum der Westen 20 Jahre nach 9/11 umdenken muss.

Die Anschläge auf das World Trade Center sind für ihn das „Geburtstrauma“ des 21. Jahrhunderts. Der Islamwissenschaftler, Übersetzer und Publizist Stefan Weidner sieht den Westen seit 9/11 im Würgegriff des Kampfes gegen den Terror. Dieser habe, schreibt er er in seinem provokanten Essay „Ground Zero“, die Politik so deformiert, dass Themen wie der Abbau wirtschaftlicher Ungleichheit oder der Klimaschutz ignoriert wurden.

[Stefan Weidner: Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart. Hanser Verlag, München 2021. 256 Seiten, 23 €.]

Von daher fragt er sich auch, ob der Drahtzieher der Anschläge von 2001, Osama bin Laden, seine langfristigen Ziele nicht doch erreicht habe – eben weil er den USA und den westlichen Demokratien als Antwort auf die nihilistischen Angriffe eine konfrontative Politik aufgezwungen habe: „Die Einsicht, dass der von bin Laden angezettelte globale Bürgerkrieg in weiten Teilen nach seinen Wünschen verlaufen sein dürfte, ist niederschmetternd.“

Bin Laden mag getötet worden sein – doch der Westen sei nicht wiederzuerkennen, er tauge nicht mehr als Orientierungsmodell. Seine Politik habe der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit, einer Kultur von Intoleranz und Hass gegen Menschen, die anders denken und aussehen, Vorschub geleistet.

Entzauberung des Westens

Durch seinen Umgang mit 9/11 habe er seine eigene „Entzauberung“ und Abdankung vorangetrieben, lautet eine der zentralen Thesen dieses Essays. Jetzt, wo die Verwundbarkeit der globalen Gesellschaft für jeden zutage trete, sieht er aber auch die Chance, dass der Westen bescheidener und selbstkritischer auftritt.

Weidner ist überzeugt, dass die fatale Entwicklung eine bewusste Wahl war. So wagt er die steile These, dass die entscheidende Weiche bereits am 12. Dezember 2000 gestellt wurde. Damals entschied das Oberste US-Gericht gegen eine Neuauszählung der Wählerstimmen im Bundesstaat Florida, und damit kam George W. Bush an die Macht – statt des Demokraten Al Gore. Der ökologisch-philosophisch angehauchte Gore, glaubt er, hätte nicht dieselbe aggressive Außenpolitik verfolgt wie Bush mit dem Einmarsch in den Irak und der folgenden Destabilisierung des gesamten Nahen Ostens.

Mit der Wahl Bushs sei die Entwicklung der nächsten 20 Jahre besiegelt gewesen. Die Konservativen hätten mit dem Kampf gegen den Terror eine „neue Mission“ gefunden, die zudem wunderbar in ihr neoliberales Weltbild passte.

Das ist reine Spekulation, und wer die Rachegelüste der meisten Amerikaner nach 9/11 erlebt hat, mag skeptisch sein, ob eine selbstreflektiertere Politik möglich gewesen wäre. Es ist letztlich aber auch egal. Denn was dann kam, ist keine Spekulation. In der kritischen Zusammenfassung der Vorgeschichte von 9/11 und der Reaktionen des Westens darauf liegt eine der Stärken dieses Buches: Hier kennt sich Weidner aus und leitet nachvollziehbar her, dass die Wut auf die USA und „den Westen“ älter sei als der politische Islamismus.

Weltliche, nicht religiöse Ursachen

Sie habe weltliche und geopolitische Ursachen – keine religiösen. Koloniale Unterdrückung, Machtgier und Dekadenz prangerte schon die arabische Linke an. Er zeigt, wie der zunächst rein lokale und regionale Kampf islamistischer Gruppen gegen ihre eigenen korrupten Machthaber sich auf den Westen ausweitete – weil dieser ebendie Despoten in Saudi-Arabien und Ägypten unterstützte oder wie im Iran gar an die Macht brachte.

Die Terroranschläge von 2001, so Weidner, seien ein „Warnschuss“ gewesen, „dass die wirtschaftliche und politische Globalisierung auch andere, bis dahin eher regionale Probleme wie den muslimischen Terrorismus globalisiert“. Den habe der Westen aber nicht gehört. Die Debatte um das eigene Modell der Moderne, die in den westlichen Gesellschaften begonnen hatte, wurde jäh abgewürgt durch den Angriff von außen und den politisch verordneten Schulterschluss und Gegenangriff. Erstmals seit 20 Jahren scheint es Weidner mit der Corona-Pandemie möglich, das Undenkbare zu denken und alte Wahrheiten über Bord zu werden.

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Als Journalist und Schriftsteller habe er immer versucht, zu einer positiven Entwicklung der islamischen Welt beizutragen. Seit 9/11 sei er hauptsächlich mit „Feuerlöschen“ beschäftigt gewesen. Die negativen Entwicklungen in der Region hätten zugenommen – mit Ausnahme der gesellschaftlichen Aufstände ab 2011. Viele Menschen mussten aus der Region fliehen, andere fühlen sich in Deutschland und Europa, ihrer neuen Heimat, nicht mehr sicher.

Wie alles mit allem zusammenhängen soll: Das überzeugt nicht an allen Stellen. Wie etwa die Zerstörung von Umwelt und Klima oder die Verbreitung eines Virus dadurch begünstigt wird, bleibt unklar. Und auch wenn Weidner ausführlich erklärt, wie er den schwierigen Begriff des Westens nutzt – letztendlich betreibt er eine Gleichsetzung der USA mit Europa, was natürlich zum Widerspruch herausfordert.

Aber Weidner will aufrütteln, um den Geist einzuhegen, der mit den Terroranschlägen von 2001 aus der Flasche stieg und den der „traumatisierte und manipulierte“ Westen bis heute nicht mehr zu fassen vermag – das ist sein großes Anliegen.

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