Erzählungen von Lucia Berlin: Ohne Schaden kommt hier keiner raus
Die amerikanische Meistererzählerin Lucia Berlin ist eine grandiose Wiederentdeckung. Antje Rávic Strubel hat ihren Band "Was ich sonst noch verpasst habe" ins Deutsche übertragen.
Zwei Schwestern unterhalten sich: „Ich habe Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass wir Papa mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus bringen würden. Weißt du, was sie gesagt hat? ‚Könnt ihr unterwegs anhalten und ein paar Bananen kaufen?’“ Diese Anekdote hat fast die Struktur eines Witzes, doch zu krass und beschämend ist das Versagen des Mitgefühls, das sich darin artikuliert. Aber so geht es zu in den zerrütteten Familien, die Lucia Berlin in ihren Geschichten beschreibt und die meist literarisch nur leicht überformte Abbilder ihrer eigenen sind. Mit dem Versagen selbstverständlichster Gefühle muss jederzeit gerechnet werden. Ohne Beschädigung kommt hier keiner heraus. Aber leidvolle und befremdliche Erfahrungen sind auch eine gute Grundlage für gewitztes Erzählen.
So kann der von der Schriftstellerin Antje Rávic Strubel geschmeidig übersetzte Band mit dreißig ausgewählten Erzählungen aufwarten. Unter dem Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“ folgt er der Neuausgabe der gesammelten Erzählungen, die im letzten Herbst in den USA als Wiederentdeckung des Jahres Furore machte. „Manual for Cleaning Women“ (Handbuch für Putzfrauen) hieß das Buch dort, nach einer der auch in der deutschen Ausgabe enthaltenen Meistererzählungen.
Als „Cleaning Lady“ hat auch Lucia Berlin (1939 – 2004) gearbeitet, als Aushilfslehrerin und in der Krankenhaus-Notaufnahme, um als alleinerziehende Mutter sich und ihre vier Söhne durchzubringen. Deren Väter waren offenbar selber eher Versorgungsfälle (Jazzmusiker, drogensüchtig). Das ruhelose, von vielen Umzügen geprägte Leben, das Berlin mit ihren Eltern führte, setzte sie als Erwachsene mit ihren Söhnen fort, und so sind ihre Geschichten abwechselnd in Metropolen und Provinznestern, in Alaska, Chile oder Mexiko angesiedelt. Diese „Stories“ schnüren keine Moral; sie sind meist in der Ich-Form verfasst – Bruchstücke einer großen Konfession.
Kindheitsstories: Ein Schrecken der frühen Jahre ist der Großvater
Bei jenen Geschichten, die die eigene Kindheit verarbeiten, geht es ohne vordergründiges Psychologisieren um literarische Ursachenforschung. Eine „neurotische, alkoholkranke, unsichere Erwachsene“ wird man schließlich nicht aus freien Stücken. Da behauptet der Eismann in „Stille“, das Mädchen und die syrische Nachbarstochter hätten Eis geklaut. Die Mutter des Mädchens reagiert mit Ohrfeigen: „Rein mit dir, du kriminelle Göre.“ Die Mutter der syrischen Freundin dagegen attackiert den Eismann: „Du mieser Lügner… Was fällt dir ein, schlecht über meine Kinder zu reden!“ Es folgt der schöne Satz: „Ich wollte nicht bloß, dass meine Mutter mir glaubte, wenn ich unschuldig war – was sie nie tat –, sondern ich wollte, dass sie hinter mir stand, wenn ich schuldig war.“
Ein Schrecken der frühen Jahre ist der Großvater, ein Zahnarzt, der die besten Gebisse in West-Texas macht, ein Original, in dessen „Werkstatt“ seit Jahrzehnten nicht mehr geputzt wurde. Und ein fieser Alter, der das Schild „Ich arbeite nicht für Neger“ im Fenster hat und seine halbwüchsigen Enkeltöchter sexuell missbraucht. Um eine irritierende Verkehrung dieser Gewaltverhältnisse geht es in „Dr. H. A. Moynihan“. Eines Sonntags fordert der Großvater die Enkelin auf, mit ihm in die „Werkstatt“ zu kommen. Dort zeigt er ihr sein Meisterstück: die perfekte Nachbildung seiner eigenen angegilbten Zähne, einschließlich des kränklich-rosafarbenen Zahnfleischs.
Einer Putzfrau gleich, schaut die Erzählerin in die schmutzigen Winkel
Er setzt sich in den Behandlungsstuhl, und das Kind beginnt auf seine Anweisung, ihm alle verbliebenen Zähne zu ziehen, um Platz für die neuen zu schaffen: ein blutiges Gemetzel, so anschaulich an die knirschende Wurzel gehend beschrieben, dass einem selbst der Mund offen steht bei der Lektüre dieser albtraumhaften Meistererzählung.
Man liest von einer mexikanischen Teenager-Mutter, die versehentlich ihr Kind tötet, von einer jungen Frau, die zur Abtreibung über die Grenze nach Mexiko fährt, es sich im letzten Moment aber anders überlegt. Oder von einer Trinkerin, die zitternd und hyperventilierend die frühen Morgenstunden durchleidet, bis sie dann doch in einem Nachtshop eine Überlebensration Wodka kauft, damit sie ihren Kindern das Frühstück machen kann. Lucia Berlin erzählt aus dem Leben von unterprivilegierten Frauen, aber mit einem Reichtum an Unter- und Obertönen, die den Rahmen sozialer Rollenprosa sprengt. Vielmehr ist jederzeit klar, dass ihre Heldinnen nicht aufgehen in der schmalen Rolle, die das Leben gerade mal wieder für sie vorgesehen hat. Sie laufen gleichsam in zu kleinen Schuhen durch die Welt und helfen sich über den Schmerz mit Komik und Selbstironie.
Wer selbst am Rand steht, lernt andere Randständige kennen – sei es in einer Entzugsklinik, in einem gar nicht so wunderbaren Waschsalon oder in der Notaufnahme. Auch als Putzfrau schaut die Erzählerin in die schmutzigen Winkel und sollte deshalb wie ein Psychoanalytiker der Schweigepflicht unterliegen: „Grundsätzlich nie für Freunde arbeiten. Früher oder später nehmen sie es dir übel, weil du so viel über sie weißt.“
Lucia Berlins Vater stand im Dienst der CIA
„Gut und schlecht“ ist eine der Jugendgeschichten, die ihre reale Verankerung in den fünfziger Jahren hat, als Lucia Berlins Vater, ein Bergbauingenieur im Dienst der CIA, mit dem Handel chilenischen Erzes zu Geld gekommen war und die Familie einige weniger zerrüttete Jahre in Santiago lebte. Hier ist die Ich-Erzählerin einmal in der Rolle der Privilegierten; sie blickt spöttisch herab auf eine amerikanische Lehrerin, die auf die Schülerinnen nicht nur wie eine Karikatur wirkt – Gehbehinderung, dicke Brille, „schreckliche Stimme“ und „zerknitterte Hosen voller Suppenflecken“ –, sondern auch noch alle mit ihrem klassenkämpferischen Idealismus nervt.
Lucia Berlins Spezialität: die subtile Komik
Aber die als Lieblingsschülerin auserkorene Ich-Erzählerin tut der Lehrerin den Gefallen und begleitet sie an Wochenenden zu revolutionären Versammlungen und als Helferin in die Slums von Santiago, wo Lumpen-Menschen auf schwelenden Müllhalden leben – um sie am Ende doch zu verraten. Das Porträt dieser kleinen „Kommunistin“ in ihrer menschlichen Qual und ihrem ethischen Übereifer zeigt Berlins außergewöhnliche Feinheit in der psychologischen Beobachtung.
Seit Jahren werden in den USA Autoren wiederentdeckt, bei denen man sich nur wundert, dass sie zu ihrer Zeit verquält-verkannte Existenzen im Schatten führten. Richard Yates gehört dazu oder der „Stoner“-Autor John Williams. Beide verbindet das grundgenaue realistische Erzählen und der uneuphorische Blick auf Durchschnittslebensverhältnisse. Solche Qualitäten brachten in den sechziger und siebziger Jahren weniger Aufmerksamkeit als die Spiele der Postmoderne oder die popkulturellen Aufbrüche.
Lucia Berlin ist eine Schwester dieser Autoren; ihre Geschichten sind allerdings deutlich lebensfreundlicher im Ton, schon durch ihre subtile Komik. Sie prahlen nicht mit großen Gefühlen, aber auch nicht mit einer Lakonie, die sich ungerührt gibt. Die Handlung ist in ihnen zweitrangig; vielmehr sind sie aus lauter Momentaufnahmen zusammengesetzt, und man muss sie langsam lesen, um die beiläufige Schönheit dieser Schnappschüsse auf das Leben und die sich plagenden, in Süchten und Sorgen verstrickten Menschen goutieren zu können.
In Berlins letzter Kurzgeschichte („B.F. und ich“) geht es um wenig mehr als die Begegnung mit einem älteren, kurzatmigen Fliesenleger – aber welchen Charme haben die knappen Dialoge, und welche Präsenz hat dieser stöhnende, schnaufende, seine Fliesenlegerweisheit verströmende Mann! Als wäre er das unpünktliche und unzuverlässige Leben selbst, das von diesen Geschichten auf nachsichtige Weise gefeiert wird.
Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe. Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Antje Rávic Strubel. Arche Verlag, Zürich 2016. 381 S., 22,99 €.
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