Literatur und Sozialwissenschaftem: Feines Korn und grobe Klötze
Was fangen die Sozialwissenschaften mit Literatur an? Die Zeitschrift "WestEnd" hat anhand von John Williams' Roman "Stoner" die Probe aufs Exempel gemacht.
John Williams’ „Stoner“ war die überraschendste Wiederentdeckung der letzten Jahre. Was 1965, im Jahr der amerikanischen Erstveröffentlichung, für immer im Orkus der Literaturgeschichte zu verschwinden drohte, wurde ein halbes Jahrhundert später zum Welterfolg. Im anglophonen Bereich trommelten Ian McEwan, Julian Barnes und Colum McCann für den Roman, in Frankreich verhalf ihm Anna Gavaldas Übersetzung zu Nachruhm, und in Deutschland gelangte Bernhard Robbens Fassung auf die Bestsellerlisten. Im grauen Leben des stoischen Titelhelden, der seine einzige Zuflucht im Lesen findet, als Assistant Professor für englische Literatur im Mittleren Westen ausharrt und aus seiner traurigen Ehe auch im Moment der einen Glücksgelegenheit nicht ausbricht, fanden sich viele wieder. Und sie erkannten über jede einfache Identifikation hinaus in Stoners existenzieller Fühllosigkeit eine Haltung stiller Würde, die aus der heroischen Vergeblichkeit seines ereignisarmen Lebens ihren Sinn bezieht.
„Ambivalenzen einer literarischen Sozialfigur“, die nun ein Schwerpunkt von „WestEnd“ (Campus Verlag, 2/2015, Einzelheft 14 €) untersucht, der Hauszeitschrift des einst von Max Horkheimer und später Theodor W. Adorno geleiteten Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Das ehrenwerte Ziel ihres Mitherausgebers und seit 2001 amtierenden Institutsdirektors Axel Honneth ist es, der Tendenz „einer Verbannung der Kunst aus dem Hoheitsgebiet der Sozialforschung“ entgegenzutreten – getreu Georg Simmels Überzeugung, „dass sich gerade in den künstlerischen Produkten einer Epoche häufig die genauesten, feinkörnigsten Schilderungen der Umbrüche einer Zeit finden.“
Ein literarisches Schicksal ist keine Fallgeschichte
Das Ergebnis ist seinerseits ambivalent – auch weil es so gut wie gar nicht nach den Methoden fragt, mit denen sich eine empirisch geprägte Disziplin fiktionaler Stoffe annehmen sollte. Ein bis zur letzten Seite durchgestalteter Roman wie „Stoner“ ist etwas grundsätzlich anderes als eine mündlich vorgetragene Fallgeschichte: Er betreibt schon seine eigene Art literarischer Erkenntnis. Ein Musterbeispiel dafür, wie es nicht geht, liefert die Philosophin Barbara Carnevali.
Ihr Aufsatz „Die Grammatik des Lebens“ ist eine hoffnungslos werkimmanente Interpretation, die weder die Entstehungszeit des Romans noch die Geschichtlichkeit der eigenen Terminologie reflektiert. Überdies legt sie Williams’ lakonischem Erzählen fortwährend begriffliche Handschellen an. Stoners Weisheit: eine „Moral der Immanenz, die ihre normative Grundlage in der Idee der Natur hat“. Sein Desinteresse an Status und Besitz: „der freie Willensakt, der den Moment des Endes vorwegnimmt!“. Er hat „nicht nur die therapeutische Wirkung, die Intensität des zukünftigen Leidens zu verringern, sondern behauptet sich als eine Geste der Souveränität“. Nichts davon ist per se falsch, aber der reduktionistische Furor, mit dem sie behauptet, „Literatur ist letztlich Moralphilosophie“, vergewaltigt die Mehrdeutigkeit jeder ernsthaften Kunst. Auch Frieder Vogelmann legt Stoner auf die philosophische Streckbank, wenn er ihn als sokratische Figur deutet.
Der Rest ist entschieden besser. Axel Honneth fragt, „in welchem Maße Stoner jeder Zugang zum Inwendigen seines eigenen Selbst verschlossen geblieben ist“. Die Soziologin Eva Illouz beleuchtet die literarische Passion des Helden vor dem Hintergrund von Emma Bovarys Träumereien und denkt nach über Berufung und Entsagung. Die Anglistin Julika Griem liest „Stoner“ im Licht der jüngsten Rezeptionsgeschichte. Nur: Honneths Beitrag könnte ebenso in einem psychologischen Journal stehen. Griem treibt Literaturwissenschaft par excellence. Allein Illouz, die nach der Rolle von Büchern im Leben von Menschen fragt, kommt genuin sozialwissenschaftlichen Fragen nahe. Durch die mühsam aufgestoßene Tür zur Literatur treten einstweilen bloß die Fächer ein, die mit ihr ohnehin keine Berührungsängste haben. Das ist kein Grund, sie sofort wieder zu schließen, aber ein guter Anlass, die Instrumente zu überprüfen. Unter Georg Simmels kunstphilosophischen Schriften findet sich nicht zufällig keine einzige, die sich mit literarischen Phänomenen beschäftigt.
Gregor Dotzauer
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