Zum Selfie-Verbot in Cannes: Oben auf der Treppe
Das Filmfestival Cannes beharrt traditionell auf Exklusivität. Nun soll's noch exklusiver werden, mit Selfie-Verbot und ohne vorgezogene Pressevorführungen. Dahinter steckt Publikumsverachtung. Ein Kommentar.
Filme sind fürs Publikum da, für die Fans. Und Festivals? Während die Berlinale sich als Publikumsfestival versteht (und dafür reichlich Kritik einsteckt), findet das Filmfest Cannes die Zuschauer offenbar lästig – und die Medien obendrein. Festivalchef Thierry Frémaux hat angekündigt, Selfies am roten Teppich zu verbieten, auch sollen die Vorpremieren für Journalisten abgeschafft werden, zugunsten von Presse-Screenings in einem kleineren Saal parallel zu den Galapremieren.
Die Selfies seien lächerlich, sagte Frémaux dem Branchenblatt „Variety“. Vor zehn Jahren hätte es sie auch nicht gegeben, also könnten sie nicht so wichtig sein. (Würde er dasselbe auch über die Digitalisierung der Filmproduktion sagen?) „Meine Arbeit und die meines Teams besteht darin, das Prestige des weltwichtigsten Festivals zu bewahren. Wenn wir oben auf der Treppe stehen, sehen wir die Vulgarität und das Groteske derjenigen, die Selfies auf dem roten Teppich machen.“ Das gebe dann immer ein riesiges Chaos.
Oben auf der Treppe: Das Selbstbewusstsein der Grande Nation des Films trägt in Cannes traditionell Züge der Arroganz und Autokratie. Statt dem mit Reformen zu begegnen, sollen dies nun verstärkt werden. Cannes erlaubt keine Netflix- und Amazon-Produktionen im Wettbewerb, solange sie keinen französischen Kinoverleih haben. Auch die Berlinale beharrt auf Kinoauswertung, aber nicht auf eine deutsche. Cannes hat die rigorosesten Zugangsbeschränkungen, weist selbst Celebrities schon mal wegen „falscher“ Kleidung ab. Und nun soll sich das Publikum nicht mal mehr vor dem Festivalpalast den Stars nähern dürfen? Werden auch Autogramme verboten?
Man gehe nach Cannes, um Filme zu sehen und nicht, um Selfies zu machen, sagt Frémaux. Aber sie sind ein Nebeneffekt der in Filmen aufbewahrten kollektiven Träume und individuellen Sehnsüchte. Sich darüber zu erheben, oben an der Treppe, heißt, die Seele des Kinos zu verraten.
Was die Abschaffung der vorgezogenen Pressevorführungen betrifft, regt sich Protest. Denn sie hat fragwürdige Folgen. Sie führt zur Zweiklassengesellschaft: Weniger Medienvertreter als bisher sehen die Weltpremieren wenigstens zeitgleich mit den Gala-Gästen – wer wählt sie aus? Und sie provoziert einen Geschwindigkeitswettbewerb, der online ausgetragen wird. Tempo statt Qualität: Es kommt auf jede Minute an, auf Kosten der Auseinandersetzung mit den Werken. Printmedien sind ohnehin abgeschlagen, nach den abendlichen Screenings können sie Kritiken erst am übernächsten Tag drucken. Andere Festivals lösen das Problem zu früh publizierter Kritiken oder voreiliger Tweets und Posts mit Sperrfristen. Warum nicht auch Cannes? Weil die Embargo-Kontrolle mehr Arbeit wäre?