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Szene aus dem rumänischen Wettbewerbs-Beitrag "Sieranevada" von Cristi Puiu.
© dpa

Cannes Journal (1): Null oder genial: Startschuss für den Palmen-Wettbewerb

Erster Tag beim Filmfest Cannes. Wölfe, zerfetzte Lämmer, Sex - das geht ja gut los: Im Wettbewerb laufen zu Beginn Filme aus Frankreich und Rumänien.

Ist der Drehbuchentwurf nun „nul“, wie der Franzose gern mit langgezogenem „üüü“ sagt und wie der dauerschreibverhinderte Scriptverfasser selber meint? Oder ist er „génial“, wie der entnervte Produzent nach mehreren verpufften Vorschüssen angesichts von ein paar panisch hergestellten Seiten behauptet?

Fundamental diametral die Frage, die Alain Guiraudies Wettbewerbsbeitrag „Rester vertical“ am ersten Festivaltag in Cannes da aufwirft. Zugleich benennt sie jene Maximalspannweite, zwischen der die zu Tausenden in das südfranzösische Küstenstädtchen eingefallenen Kritiker ihre Objekte derzeit taxieren müssen. Die Exposition immerhin zum Drehbuch des 69. Festivals von Cannes dürfte konsensfähig sein: flott, abwechslungsreich – und frisch wie der mal eben von Cuxhaven an die Croisette umgezogene, den Himmel freipustende Nordseewind.

Gerade hat Woody Allen mit „Café Society“ eines jener Drehbücher vorgelegt, bei deren Verfilmung der Zuschauer mitunter voller Vergnügen mehr weiß als die Akteure, da setzt der Rumäne Cristi Puiu auf das glatte Gegenteil. In seinem fast dreistündigen Realzeitdrama „Sieranevada“ (er wählte den Titel ausschließlich wegen seiner Unübersetzbarkeit und aus purer Lust am orthografischen Fehler) taumelt eine Familie durch ein Fest, und meist steht die Kamera im engen Wohnungsflur und schwenkt so sinnsuchend wie unruhig zwischen den schmalen Räumen hin und her. Und der Franzose Guiraudie erzählt – erst unterhaltsam, dann ein bisschen angestrengt – überhaupt von der allmählichen Verfertigung eines Drehbuchs beim Filmen.

Cristu Puiu ist, neben Cristian Mungiu und Corneliu Porumboiu, einer der Hauptvertreter des rumänischen Neoneoneorealismus, der seinen Protagonisten grundsätzlich ohne Filmmusik, ohne Rückblenderei, ohne Drübergequatsche beim Leben zusieht. In „Sieranevada“ versammelt sich ein Clan, um den 40. Todestag des Patriarchen zu begehen, und in der Wartezeit auf den die Wohnung absegnenden Popen geht bald politisch, sozial und sexuell alles drunter und drüber. Paare? Vergiss sie, genauso wie die Alten. Und die erwachsenen Geschwister und Cousins? Man versucht zumindest, an der Wirklichkeit nicht irre zu werden.

Zerfetzte Lämmer, gefährliche Wölfe, in "Rester Vertical" trügt der Schein eines friedlichen Landlebens. Szene mit Damien Bonnard, India Hair und Raphael Thierry (v.l.)
Zerfetzte Lämmer, gefährliche Wölfe, in "Rester Vertical" trügt der Schein eines friedlichen Landlebens. Szene mit Damien Bonnard, India Hair und Raphael Thierry (v.l.)
© dpa

Das ist stark, und dabei passiert nichts wirklich explizit. Eher im unablässigen Reden entweichen Geheimnisse wie ein Gas, und erschöpftes Lachen ist am Ende das einzige Gegengift. Guiraudie dagegen, der aufs besonnene Dahinerzählen ganz verzichtet, verlässt sich in seiner Menschenzusammenführung – ein Nichtsnutz von Filmschreiber, eine Schäferin, ihr Riese von Vater – aufs Drastische: weibliche Scham in Großaufnahme, Wölfe, zerfetzte Lämmer, Sex zwischen einem jungen Mann und einem sterbenden Greis. Da wird das Cannes-Publikum, das schon allerhand gesehen hat, plötzlich ganz cool.

Nicht, dass „Rester vertical“ (laut Guiraudie halten Wölfe Menschen für gefährlich senkrechte Tiere, weshalb man vor ihnen den aufrechten Gang nie verlieren darf) ein schlechter Film wäre. Nur, ist das Drehbuch nun null oder genial? Auch wenn die Antwort dem radikalen Regisseur bestimmt nicht schmeckt: irgendwas dazwischen.

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