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Big Business. Kreml-Chef Putin und FIFA–Boss Infantino beim Confed-Cup 2017 in St. Petersburg.
© Alexei Druzhinin/Pool Sputnik Kremlin/dpa

Vor der WM in Russland: Nicht „nur“ Sport - wie Fußball und Politik zusammenhängen

Das Spiel ist das Größte? So eine Sichtweise ist naiv, denn die Systeme von Fußball und Politik gleichen sich immer mehr an. Zumal in autoritären Staaten.

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland beginnt erst in einer Woche, und doch ist sie schon lange im Gang. Nicht auf dem grünen Rasen, sondern drumherum, in den Sphären der Wirtschaft und der Politik, dem letztendlich viel wichtigeren, symbolträchtigeren Feld.

So wurde der Entscheidung des Bundestrainers Joachim Löw, vier Spieler nicht mit nach Russland zu nehmen, weil er aus seinem vorläufigen Aufgebot von 27 Akteuren nur 23 mitnehmen kann, schon eine enorme Wichtigkeit beigemessen. Doch bedeutender – den Rang einer Staatsaffäre einnehmend – war und ist das Posieren der türkischstämmigen Fußballer Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan – auf das sofort die Intervention von Bundespräsident Steinmeier erfolgte, der beide ebenfalls empfing, als „Brückenbauer“, und ihnen das Versprechen abnahm, treu zu den Werten unserer demokratischen Grundordnung zu stehen.

Özil hat sich bislang konsequent öffentlich dazu ausgeschwiegen, und Gündogans Erklärungen beim sogenannten Media Day der Nationalelf in ihrem Trainingslager in Südtirol ließen viele Fragen unbeantwortet. Dass die Kanzlerin gerade in Südtirol war, mit den Fußballnationalspielern plauderte und ihnen Erfolg und Glück für die Putin-WM wünschte, muss hier kaum noch erwähnt werden – so ein Besuch gehört schon seit Merkels Amtsantritt zu ihren Pflichtterminen.

Fußball und Politik bedingen einander

Fußball und Politik bedingen einander, selbst wenn der Fußball gern darauf pocht, „nur“ Sport zu sein, ein Spiel. Besonders wenn die Nähe zur Politik prekär wird. So wie es 1978 in Argentinien der Fall war, als die damalige Militärjunta Regimegegner aus Flugzeugen über dem Meer in den Tod stieß, während in den Stadien Fußball gespielt wurde. Und so wie es jetzt wieder in Russland und sicher auch in vier Jahren in Katar sein wird, bei der Weihnachts-WM.

Die Politik wiederum sucht die Nähe zum Fußball, weil dieser so unfassbar populär ist, weil gerade während einer Fußball-WM die Welt sich um nichts anderes dreht als den Ball und die Mittelfußknochen von Neuer und Neymar. Anscheinend können weder der Hyperkommerz noch die allgegenwärtige, geradezu notorische Korruption in der FIFA, dem Weltfußballverband, der Popularität des Fußballs etwas anhaben. Auch, dass es immer noch mehr Fußball gibt, selbst im Free-TV, scheint diesem bislang nichts anhaben zu können, noch mehr seltsame unwichtige Wettbewerbe, noch längere Europa- und Weltmeisterschaften mit noch mehr Teilnehmern und noch mehr Spielen.

Insofern verblüfft es zunächst kaum, wenn der in Frankfurt/Oder als Professor für Europa-Studien tätige Timm Beichelt in seinem Buch „Ersatzspielfelder“ konstatiert, dass der Fußball stetig an Relevanz gewinne, und „je größer seine gesellschaftliche Relevanz, desto größer ist der Bedarf an fußballbezogener Politik.“ (Timm Beichelt: Ersatzspielfelder. Zum Verhältnis von Fußball und Macht. Edition Suhrkamp, Berlin 2018. 398 S., 18 €.)

Intransparenz ist bezeichnend für FIFA und DFB

Beichelt setzt in seinem Buch die Macht, die der Fußball hat, die seiner Amtsträger und Institutionen, in Beziehung zur Macht der Politik, und er versucht dieses vielfach unübersichtliche Herrschaftsgeflecht zu durchleuchten. Dabei erhielt er aus dem Bereich des Fußballs nur wenig Unterstützung: „Auf fast alle meine Rechercheanfragen an Vereine oder Verbände erhielt ich die Antwort, wissenschaftliche Anliegen könne man aus Kapazitätsgründen leider nicht berücksichtigen – auf die restlichen erhielt ich überhaupt keine Reaktion.“

Das ist bezeichnend. Der Fußball wird immer bedeutender – doch genauso dominiert ihn das intransparente Gebaren von eigentlich gemeinnützigen Organisationen wie dem DFB, dem Deutschen Fußballbund oder eben der FIFA. Beide wiederum, Politiknähe hin oder her, können vom Staat nur schwer kontrolliert oder in die Verantwortung genommen werden. Zum Beispiel in puncto Steuern oder wenn es um die Kosten von Polizeieinsätzen in und um die Stadien geht.

Trotz ihrer Gemeinnützigkeit arbeitet die FIFA wie ein Unternehmen, genau wie der DFB. Sie privatisiert Gewinne, wälzt alles andere aber auf das Gemeinwesen ab. Beichelt spricht von einer „Verwirtschaftlichung“ des Fußballs und legt dar, wie ein Satz aus den Statuten des DFB, nämlich „Der DFB ist selbstlos tätig“, im krassen Widerspruch steht zu den Einnahmen, die der Verband bezieht: aus dem Verkauf der Fernsehrechte des DFB-Pokals, mit seiner inzwischen eingetragenen Marke „Die Mannschaft“ oder den Verträgen mit der DFL, der Deutschen Fußball-Liga. Und diese Einnahmen, klar, kommen nicht der Allgemeinheit zugute, sondern den Akteuren des Fußballs.

Arbeit und Leistung stehen über allem

„Man könnte Dutzende weitere Beispiele anführen, mit denen sich ein immer stärkeres Einsickern ökonomischer Werte, Praktiken und Metriken auf jede Dimension des Fußballs belegen ließe“, schlussfolgert Beichelt ernüchtert.

Das Spiel ist das Größte? Entscheidend ist immer auf dem Platz? So eine Sichtweise ist angesichts der realen Verhältnisse im Fußball naiv. Man denke allein an die Sprache der Fußballer, die Sätze, mit denen sie sich auszudrücken pflegen nach oder vor den Spielen oder eben Turnieren. „Was kann ich tun, damit ich jeden Tag ein bisschen besser werde, dass ich dann wirklich in Top-Form bin“, zitiert Beichelt Joachim Löw, nachdem dieser vor einem Jahr den „härtesten Konkurrenzkampf seiner Amtszeit“ im Hinblick auf die WM ausgerufen hatte.

Arbeit und Leistung stehen im Fußball über allem, Sätze wie „Ich muss mehr an mir arbeiten“ und „Wir müssen unsere Leistung abrufen“ kennt man aus Fußballermund zur Genüge. Damit wirkt der Fußball als neoliberaler Katalysator, als Vorbild für die Selbstoptimierung eines jeden Einzelnen in unserer Leistungsgesellschaft. Fußball ist unser Leben.

Dabei gelingt es dem Fußball, Widersprüche gut miteinander in Einklang zu bringen. Trotz des „härtesten“ Konkurrenzkampfes ist der einzelne Spieler ohne die Mannschaft nichts, spricht jeder Spieler meist von „Wir“ und dass es nie „um meine Person“ gehe, sondern um den Verein, die Mannschaft, die Fans (um dann für mehr Geld gleich wieder den Verein zu wechseln). Auf der Seite der Fans ist es mit den fein ausbalancierten Widersprüchen ähnlich. Es gibt bei ihnen die Sehnsucht nach Gemeinschaft in einer ansonsten ausdifferenzierten Gesellschaft, nach Identifikation mit einem Verein, ja, nach Heimat in einer unübersichtlich gewordenen Welt, nicht zu vergessen nach Kontemplation und ein bisschen Irrationalität – eine Sehnsucht, die ausgerechnet beim Fußball mit seinem Wettbewerbsdenken und Leistungsethos gestillt wird.

Özil und Gündogan bei Erdogan

Beichelt spricht von einer „eigentümlichen Erscheinungsform spätmoderner Gesellschaften“. Diese wird noch eigentümlicher und bedenklicher dadurch, dass insbesondere die FIFA von demokratischen Verhaltensweisen weit entfernt ist. Der ungezwungene Umgang mit demokratiefernen, autokratischen Regimes ist vor diesem Hintergrund für die Akteure des Fußballs ein geradezu naturgemäßer. Die Auftritte von Mesut Özil und Ilkay Gündogan, wie sie Erdogan ihre Trikots überreichen, passen perfekt ins Bild des modernen Fußballs und seiner Verbindung zur Politik. Beide sind „nur“ Fußballer, haben keine politischen Absichten – aber auch kein Problem mit Autokraten, höchstens halt „starke Bezüge“ zur Türkei, wie Gündogan es ausgedrückt hat.

Die Integration, die der Fußball, wenn es gut läuft, stark zu befördern in der Lage ist, sie weckt in einer globalisierten Welt auch Begehrlichkeiten wie die eines Erdogan. Warum sollte man sich da ausgerechnet über Özil und Gündogan wundern? Am Ende der WM, beim Endspiel in Moskau, sitzt im Fall der Fälle womöglich auch die Kanzlerin neben Putin auf der Tribüne. Das macht sie als Fußballfan - läuft aber auch unter Realpolitik.

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