Coronavirus und Kino: Nicht mal 007 ist immun
Die Filmbranche reagiert nervös auf das Coronavirus, das Publikum trotzt den Warnungen noch. Was aber macht die Krise mit dem sozialen Ort Kino, wenn die Gefahr nicht gebannt wird?
Klassische Kinoerzählungen folgen einer linearen Struktur. Sie sind nicht so chaotisch, sprunghaft wie die Wirklichkeit. Das hat etwas Tröstliches in einer Zeit, in der Informationen aus der Zeitung und den Sozialen Medien die allgemeine Ungewissheit befeuern: mit Bildern von Menschen in Atemmasken, leergefegten Supermarktregalen und hustenden Politikern im Fernsehen.
Steven Soderberghs Epidemie-Thriller „Contagion“ von 2011 endet mit der Patientin Null; es ist Gwyneth Paltrow. Das tödliche Virus ist gebannt, am Ende haben Wissenschaftler einen Impfstoff gefunden. 50 Millionen Menschen sind gestorben, die öffentliche Ordnung hat sich aufgelöst. Aber noch etwas hat das Kino der Realität voraus: Auch in „Contagion“ hat die Epidemie ihren Ursprung auf einem chinesischen Markt, Überträger ist eine Fledermaus.
In Krisenzeiten findet der Mensch Trost in optimistischen Erzählungen – oder er liebäugelt mit apokalyptischen Szenarien. Ein Spiel mit der eigenen Angstlust. „Contagion“ ist keine realistische Referenz für den Umgang mit dem Coronavirus, an dem bislang weniger als 5000 Menschen weltweit gestorben sind. Er hat trotz seines sachlich-kühlen Tons auch keinen dokumentarischen Wert. Aber sein kommerzieller „Longtail“ erlebt in der Krise einen Aufschwung: Auf den Streamingplattformen gehört Soderberghs Thriller derzeit zu den meist gesehenen Filmen, im Warner-Portfolio ist er 2020 gar der zweiterfolgreichste Titel.
Die kurzfristigen Folgen sind spürbar
Noch ist nicht abzusehen, welche Auswirkungen das Coronavirus auf das gesellschaftliche Leben haben wird, aber die kurzfristigen Folgen sind zumindest spürbar. Die Menschen ziehen sich lieber ins Private zurück, Großveranstaltungen werden gemieden oder ganz abgesagt. Für die Kultur, die vor allem im öffentlichen Raum existiert, ist das ein Problem.
Vergangene Woche überraschte das Studio MGM mit der Verschiebung des neuen James Bond, der den prophetischen Titel „Keine Zeit zu sterben“ trägt. Nicht mal vier Wochen vor dem Kinostart. Man kann von dieser folgenschweren Entscheidung die gereizte Stimmung der Menschen und Märkte herleiten. Niemand verschiebt ohne Not den weltweit synchronisierten Start eines milliardenschweren Kinofilms, von dessen Performance am Box-Office sehr viele Parteien abhängig sind: Studios, Verleiher, Kinobetreiber, die Werbeindustrie. Nicht mal 007 ist gegen das Virus immun.
Die Entscheidung zeigt, wie anfällig die US-Kinobranche, die jahrzehntelang von den Umsätzen auf dem heimischen Markt zehrte, heute ist. Sie braucht für ihre Geschäftsbilanz die 70 000 chinesischen Kinos, die von der Coronaviruskrise wirtschaftlich am stärksten betroffen sind. In Zeiten, in denen das Startwochenende eines Blockbusters über den Börsenkurs eines Filmstudios entscheiden kann, sind die weltweit getakteten Veröffentlichungstermine eminent wichtig.
Die Verluste sind auf fünf Milliarden Dollar beziffert
Die Verschiebung von „Keine Zeit zu sterben“ setzt nicht nur für andere Studios und ihre Blockbuster – wie Disney („Black Widow“, 30. April), Universal („Fast & Furious 9“, 21. Mai), Warner Bros („Wonder Woman 1984“, 4. Juni) und Paramount („Top Gun Maverick“, 16. Juli) – einen Präzedenzfall. Sie wirkt sich auch auf die Tektonik der sogenannten „Tentpole“-Filme aus: jenen Blockbustern, deren Starts über das gesamte Kinojahr sorgfältig aufeinander abgestimmt sind.
Die enge Taktung ist vermutlich auch ein Grund, warum Disney trotz der Absage der chinesischen Premiere der Realverfilmung „Mulan“, die auf den Markt in China zugeschnitten war, nicht den weltweiten Start Ende März verschiebt. Das Studio würde sich mit Marvels „Black Widow“ kurz darauf selbst Konkurrenz machen.
Ob dieser Terminplan überhaupt eingehalten werden kann, steht ohnehin in den Sternen. Zwar melden die chinesischen Behörden bereits wieder einen leichten Rückgang von Neuinfizierungen, aber die Epidemie kommt gerade erst in Europa und Amerika an. Am Sonntag ordnete die italienische Regierung die Schließung aller Kinos bis April an.
Vergangene Woche bezifferte das Branchenblatt „Hollywood Reporter“ die möglichen Verluste in der Filmbranche auf fünf Milliarden Dollar. Doch der Markt ist unberechenbar. Auch der Aktienkurs von Netflix ist seit Beginn der Krise in den USA eingebrochen, dabei müsste der Streamingdienst eigentlich zu den Profiteuren zählen. Wenn sich kein Filmfan mehr vor die Tür traut, bleibt man eben Zuhause und „bingt“ Filme auf der Couch.
Statt ins Kino gleich auf die Streamingportale
Disney und Warner spielen schon mit dem Gedanken, im worst case scenario ihre kommenden Attraktionen gleich über die Streamingportale zu veröffentlichen. Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn ausgerechnet das Coronavirus im jahrelangen Streit zwischen der Kinobranche und den neuen digitalen Anbietern Fakten schaffen würde. In der Krise wartet immer auch eine Chance.
Momentan erscheint die Realität an den Kinokassen – außerhalb Italiens, Chinas und Südkoreas – aber noch nicht so düster wie befürchtet. Am vergangenen Wochenende spielte der Pixar-Film „Onward“ in den USA moderate 40 Millionen Dollar ein – kein ganz katastrophales Ergebnis.
Und auch die deutschen Kinobetreiber schlagen noch keinen Alarm. „Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau und halten uns an die Vorgaben der lokalen Behörden“, gibt die Cinemaxx-Kinokette auf Anfrage zu verstehen.
Cannes ist bisher nicht abgesagt
Damit liegt das Unternehmen auf der Linie des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF). „Bisher lag der Schwerpunkt darauf, die empfohlenen Präventivmaßnahmen sorgfältig zu beachten und unsere Mitglieder darauf hinzuweisen, diese Maßnahmen in ihren Kinos aktiv zu unterstützen und umzusetzen“, teilt Christine Berg vom HDF dem Tagesspiegel mit.
Auch mit wirtschaftlichen Zahlen hält sich der Dachverband bedeckt. „Umsatzeinbußen aufgrund des Coronavirus“, so Berg, „sind uns aktuell nicht bekannt.“ Dass die Bond-Absage die Gewinne im zweiten Quartal empfindlich beeinträchtigt, steht wohl dennoch außer Frage. Obwohl die Branche zur Panikmache neigt (Sommerloch, Kinosterben, Netflix), sieht man dem Virus also gelassen entgegen. Erreger und Erregung haben scheinbar nur etymologisch dieselbe Herkunft.
Erreger und Erregung
Betont entspannt gibt sich auch Cannes-Chef Thierry Frémaux, der weiter an dem Termin Mitte Mai festhält, obwohl die französische Regierung gerade ihr Verbot auf Veranstaltungen bis zu 5000 Menschen ausgeweitet hat. 2300 Plätze umfasst der Festivalpalais, insgesamt werden aber 12 000 Akkreditierte erwartet. Inzwischen gibt es über ein Dutzend bestätigte Coronavirus-Fälle in der Cannes-Region.
Einen Schritt weiter ist die Deutsche Filmakademie, die am 24. April den Filmpreis verleiht. Im Gegensatz zu Cannes befindet man sich bereits in Gesprächen, um mögliche Optionen abzuwägen. Entscheidend wird die Entwicklung in der kommenden Woche sein. Wenigstens ist die Berlinale dem Supergau einer Absage knapp entgangen. Endlich scheint sich der ungünstige Februar-Termin auch mal als Glücksfall für das Festival zu erweisen.
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