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Autorin Terezia Mora bei Verleihung des Deutschen Buchpreises 2013
© dpa

Terézia Mora: Neurotiker und Ungeheuer

Terézia Moras Poetikvorlesungen erzählen die Geschichte des Wachstums. Ihre eigenen biografischen Anfänge greift sie in einer Heldenreise auf.

„Die Grundlage meiner speziellen Wahrnehmung ist, dass mir seit jeher die Welt zu nahe tritt“, schreibt Terézia Mora in der fünften und letzten ihrer Poetikvorlesungen mit dem Titel „Ungeheuer“. Über dieses Ungeheuer mit dem harmlos klingenden Namen Darius Kopp hat die aus dem ungarischen Sopron stammende Mora zwei Romane geschrieben, und an ihm hat sie geübt, wie man „ins Innere des Helden kommt“. Sie ist eine ungeheuer systematische Autorin, und ihre Frankfurter Poetikvorlesungen erzählen die Geschichte eines entschlossenen Wachstumsprozesses. Aber sie beschreiben auch genau den sprachlosen Schmerz, der am Anfang dieses Wachsens, mithin ihres Erzählens stand: „Erzähl ja nicht, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts von hier“ lautet der Anfangssatz ihrer Erzählung „Seltsame Materie“. Gewalt, Alkohol und seelische Verwahrlosung prägten das Dorfleben, um das ihre ersten Prosaarbeiten kreisen, und wie stark autobiografisch diese sind, erzählt Terézia Mora in ihrer ersten Vorlesung.

Ihre Geschichten und Romane spielen nicht in der privaten, sondern in der poetischen Welt, aber die Autorin stellt uns deren Personen vor wie Familienmitglieder: neben Darius Kopp und seiner verzweifelten Frau Flora ist das vor allem Abel Nema, der schweigsame serbische Flüchtling aus „Alle Tage“, der dem Kriegsdienst entkommen will. Er steht ihrem Herzen besonders nah, das verraten ihre Berichte aus der Schreibwerkstatt. Als sie noch an ihrem ersten Erzählungsband arbeitete, kam er einfach zur Tür herein, setzte sich ihr gegenüber und blieb.

Cover des Buches "Nicht sterben"
Cover des Buches "Nicht sterben"
© Promo

„Nennen wir die Zeit jetzt"

Gelesenes, beobachtete und erinnerte Nachbarn, Freunde und Passanten, ungewöhnliche biografische Details mischen sich im Bewusstsein und gebären unverhofft eine neue Figur, die von Anfang an selbstständig und eigensinnig genug ist, sich gegen Zumutungen in Gestalt falscher Sätze zu wehren. „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier“ – so beschreibt sie ganz körperlich und konkret ihre Beobachtungsposition in Anlehnung an einen Satz von Péter Esterházy.

Von ihren Anfängen erzählt sie in den Bildern der klassischen Heldenfahrt: dem erzwungenen Aufbruch, den Kämpfen gegen Drachen und Dämonen, den entscheidenden Helfern, den richtigen Fragen. Es war ein weiter Weg von den stark typisierten, maskenhafte Figuren der „Seltsamen Materie“ bis ins Innerste eines neurotischen Stadtmenschen wie Flora, der leidenden, wehrlosen Frau des IT-Spezialisten Kopp. Das Kostbare an diesen Vorlesungen ist, dass Mora uns Leser zu jeder Station, jedem Wendepunkt ihrer Abenteuerfahrt mitnimmt.

Nicht nur Terézia Moras Figuren werden uns dadurch zu Mitreisenden, sondern sämtliche Romanfiguren, denen wir fortan begegnen.

Terézia Mora: Nicht sterben. Frankfurter Poetikvorlesungen. Luchterhand Verlag, München 2015. 160 S., 18,99 €.

Nicole Henneberg

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