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Die Säule stammt aus der Castorf-Inszenierung „Kaputt“ (2014) vor der Volksbühne.
©  Hannes Soltau

Nach Abbau des Räuberrades: Neue Skulptur vor der Volksbühne

Der Abschied von Castorf geht weiter: Vor der Volksbühne hat eine Säule den Platz des Räuberrades eingenommen.

Das Räuberrad vor der Berliner Volksbühne ist Geschichte. Jenes Rasenstück, das über 20 Jahre lang das Zuhause für das Wahrzeichen wahr, blieb aber nur kurz verwaist. Zwei Tage nach der Dekonstruktion, die ja erst im zweiten Anlauf gelang, hat bereits am Sonntag ein Nachfolger seinen Platz eingenommen. Ein meterhoher Säulenstumpf ziert nun den Rosa-Luxemburg-Platz.

Mit seinen senkrechten, konkaven Furchen erinnert er an die Pfeiler antiker Repräsentativbauten. Doch erstrahlt die Skulptur nicht im Weiß des griechischen Marmors oder im Hellgelb des Römischen Travertin. Das Ding ist pechschwarz angestrichen. Wie es da so einsam steht, erinnert es ein wenig an den Monolith aus Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum“. Der Vorgänger, das Räuberrad, soll die Volksbühne zu einem Gastspiel beim Festival von Avignon in Südfrankreich begleiten. Danach wird es saniert und wieder in Berlin aufgebaut.

Rätselhafte Skulptur

Das Symbol des Fortschritts wurde abgebaut und ersetzt durch ein Trümmerstück, Sinnbild des Zerfalls. Der opake Charakter dieses Aktes wird durch ein Schild am Fuße der Skulptur unterstrichen: In volksbühnentypischer unkorrekter Trennweise steht dort das Wort: ANF-ANG. Über dem Eingang der Volksbühne verkündet ein Banner: „Wir werden ewig leben!“.

Die Dialektik des Kunstwerks verheddert sich noch mehr als die herumflatternden Tonbänder, die sich in einem riesigen Knäuel um den Sockel wickeln. Letztere stammen aus der Innenraumdekoraktion der Volksbühne. Dazwischen vereinzelt abgelegte Blumen. Das Ritual des Abschiednehmens scheint bis hin zur Trauerfloristik durchinszeniert. Ist die neue Skulptur als Grabstein zu deuten?

Viele Betrachter empfanden die Demontage des Räuberrads als wehmütigsten Akt im langen Abgang von Frank Castorf. Wer jedoch der allerletzten Vorstellung von „Baumeister Solness“ am Samstag beiwohnte, hätte erkennen können: Castorf kommt nie zum Schluss. Zumindest nicht dann, wenn man es erwartet.

Die Säule war ein Requisit

Auf den Stufen vor der Volksbühne sitzt Johannes Ehmann. Er ist der zukünftige Pressesprecher des Hauses. Sicherlich, er könne viel zur Symbolik der Skulptur erläutern, doch eine Interpretation möchte er dem Betrachter überlassen. Nur so viel gibt er preis: Die Installation ist nur temporärer Natur. Noch habe Frank Castorf einige Wochen Hausrecht. So lange werde die Säule mindestens dort stehen.

Und noch etwas verrät er: Mitarbeiter von Castorf bargen das Requisit aus dem Fundus der Volksbühne und stellten es auf. Es ist ein Überbleibsel des Stückes „Kaputt“ aus dem Jahre 2014. Die sechsstündige Castorf-Inszenierung des Romans von Curzio Malaparte bot den Zuschauern damals ein Panorama Europas im Zweiten Weltkrieg. Die riesigen Kunststoffsäulen waren Teil des Bühnenbildes. Symbolhaft standen sie für die Trümmer Roms, Italiens und Europas. Und nun auch für die Ära Castorf?

Das Vermächtnis der Volksbühne

Doch dafür verkörpert die Säule zu viel trotzige Kontinuität. Wie das Räuberrad ist sie von Bert Neumann entworfen worden. Dessen für die Volksbühne imagebildende Ästhetik überlebte ihren Schöpfer – der Künstler starb 2015. Sein Vermächtnis steht stellvertretend für das Fortleben der Volksbühne Castorfs in der Idee. In ihm sind auch zwei Aspekte des Abschieds verschränkt: das Bewusstsein der Vergänglichkeit und der Trost, dass etwas bewahrt bleibt.

Passanten bleiben stehen, fotografieren die Skulptur. Ein alter Mann lächelt wehmütig. Zu seinen Füßen glänzen in goldenen Lettern die Worte Rosa Luxemburgs in der Morgensonne: „Es war seit jeher den Epigonen vorbehalten, befruchtende Hypothesen des Meisters in starres Dogma zu verwandeln und satte Beruhigung zu finden, wo ein bahnbrechender Geist schöpferische Zweifel empfand.“ Bei Frank Castorf und seiner Volksbühne waltet auch im Moment des Abschieds nach 25 Jahren der schöpferische Zweifel. Und vielleicht ist genau das sein größtes Vermächtnis.

Hannes Soltau

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