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Gedenken. 85 Menschen starben beim Attentat an der Promenade des Anglais.
© dpa

Kulturreport aus Nizza: Neuanfänge in der Stadt an der Côte

Rückbesinnung auf die Geschichte und aktuelle Kulturarbeit: Wie Nizza das Trauma des Terrors vom Sommer zu überwinden sucht.

Im Spätherbst kennt auch Nizza hin und wieder stürmische Tage und sogar Regen, doch meistens sind Himmel und Meer so blau, wie es die Klischees über diese Küste erwarten lassen. Einzelne Schwimmer wagen sich über den Kieselstrand ins Wasser und auf der breiten Promenade, die sich über sieben Kilometer an die sichelförmige Engelsbucht schmiegt, beherrschen Spaziergänger, Jogger und Skater das Bild.

Die Normalität täuscht: Über der Promenade liegt der Schatten des jüngsten Anschlags mit seinen 86 Toten, darunter ein vierjähriger muslimischer Junge. Die Stadt der Lebensfreude mit ihrer langen Tradition von Karnevalsumzügen und Blumenkorsos wird noch einige Zeit brauchen, um dieses Trauma zu verarbeiten. Die Stadt-Gesellschaft war in der ersten Zeit gespalten zwischen den sprachlos Trauernden und den Wütenden, und natürlich versuchen in Zeiten des beginnenden Präsidentschaftswahlkampfs bestimmte Parteien, die Situation auszunutzen.

Gedenkstätte auf dem Rondell

Das Blumenmeer entlang der Promenade wurde inzwischen auf eine spontane Gedenkstätte auf einem Rondell in dem Park reduziert, welcher nach dem belgischen König Albert I. benannt ist, Frankreichs Verbündetem im Ersten Weltkrieg. Ein überdachter Kiosk und dessen Umgebung ist übersät mit Blumen, Kerzen, Plüschtieren und Puppen, wie das jetzt weltweit zur Trauerfolklore gehört, was eher nach unaufgeräumtem Kinderzimmer aussieht. Fotos der Opfer liegen aus, manchmal wurden kurze Lebensgeschichten beigefügt.

Wie kann man in Zukunft hier den 14. Juli feiern, das Fest der Brüderlichkeit schlechthin? Wie kann die Stadt ihre Gelassenheit wiederfinden? Vielleicht indem sich die Pionierstadt des Tourismus auf ihr historisches Erbe besinnt. Seit zwei Jahren schon arbeitet eine kleine Kommission unter Leitung des erfahrenen Kulturdiplomaten François Laquièze an dem Dossier, das die UNESCO davon überzeugen soll, die Promenade des Anglais zum Weltkulturerbe zu erklären.

Die Büros und Ausstellungsräume der Kommission sind in historischen Räumen untergebracht, im vorderen Teil der Doppelreihe der flachen Häuser zwischen Schlossberg und Oper, "les Ponchettes" genannt. Die zweistöckigen Fischerhäuser gleich neben dem allerersten Hafen der Stadt waren so eng aneinander gebaut, das man auf den flachen Dächern promenieren konnte. Das war die Urform des in Europa einzigartigen Spazierwegs, der nach 1822 direkt an der Bucht eingerichtet und alsbald berühmt wurde als Promenade des Anglais, womit ursprünglich die ausländischen Touristen gemeint waren, die in der Tat zumeist aus England kamen. Nach jahrelangem Verfall werden diese Häuser nach und nach restauriert und aufgewertet, für Galerien und andere kulturelle Einrichtungen zur Verfügung gestellt; zur Platzseite des Cours Saleya hin, dem berühmten Blumenmarkt, reiht sich ein Restaurant an das andere.

Historische Keimzelle des Tourismus

Erst jenseits des längst überbauten Flusses Paillon, der die historische Altstadt umgrenzt, beginnt die eigentliche Promenade des Anglais, eine vierspurige Straße mit bepflanztem Mittelstreifen und einer sehr breiten Fußgängerzone auf der Seeseite. Diese Uferstraße mit ihren schmucken Residenzen, Casinos und Hotels, ist die historische Keimzelle des Tourismus in Europa und geradezu das Emblem dieser Stadt, die wie kaum eine andere auf der Welt von ihrer touristischen Funktion geprägt wurde und immer noch wird und die eben deswegen zum Kulturerbe gehört.

Die historische Kommission wirbt dafür, auch Teile der Altstadt ins Kulturerbe einzubeziehen sowie den Schlossberg, dessen schöne Terrasse mit dem Panoramablick nach Friedrich Nietzsche benannt ist, der zwischen 1883 und 1888 hier fünf Winter verbrachte, viel wanderte und seinen Zarathustra zu Ende schrieb, aber auch ein schweres Erdbeben miterlebte, außerdem fleißig die Oper besuchte, um sich mit Hilfe von Georges Bizet und Jacques Offenbach vom bösen Gefühlszauber Richard Wagners zu erholen. Nietzsche bedichtete hier "meinen Freund, den Mistral", denn niemand hatte ihm erklärt, dass Nizza gar keinen Mistral kennt und sein mildes Klima sich dem Schutz der nahen See-Alpen verdankt.

Heimstatt der Emigranten

Nach 1933 wurde Nizza Aufenthaltsort vieler Emigranten aus Deutschland und Österreich, darunter Heinrich Mann, der die Stadt seit 1908 regelmäßig besuchte. Der Emigrantentreffpunkt Café Monnot ist um 1970 verschwunden, als das städtische Casino an der Place Masséna, in dem es untergebracht war, abgerissen wurde. Das Haus Nummer 121 an der Promenade des Anglais, in dem ab Juli 1934 über ein Jahr drei deutschsprachige Schriftsteller gelebt haben, Heinrich Mann, Joseph Roth und Hermann Kesten mit ihren Gefährtinnen, wird im nächsten Jahr mit einer Gedenktafel versehen und somit unter Schutz gestellt. Die Gedenktafel am Haus Nummer 63 für den ehemaligen Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, der nach zehn Jahren Exil in Nizza 1943 verhaftet und deportiert wurde und bald darauf verstarb, bedarf der Erneuerung, auch an andere Emigranten soll erinnert werden, von Magnus Hirschfeld über Charlotte Salomon bis Klaus Mann.

Neues deutsch-französisches Kulturzentrum

Einer dieser Namen könnte bald das neue Deutsch-Französische Kulturzentrum zieren, das nach 18-monatiger Vorarbeit in diesem Frühjahr offiziell eingeweiht wurde und in diesem Herbst seine Arbeit aufnahm. Seine Büros und Veranstaltungsräume liegen ebenfalls in den Ponchettes, in unmittelbarer Nachbarschaft zur historischen Kommission. Die Stadt Nizza stellte die Räumlichkeiten zur Verfügung, die von einem deutsch-französischen Bauteam liebevoll renoviert und dank freundlicher Spender eingerichtet werden konnten.

Das Centre Culturel Franco-Allemand bietet Konzerte, Vorträge und Sprachkurse an, aber auch Kochkurse für deutsche Küche, die erstaunlich viel Anklang gefunden haben. Das Kulturzentrum hat keine Angestellten, sondern nur ehrenamtlich Mitwirkende, unter dem Vorsitz von Tobias Bütow, ansonsten Studiengangsleiter am europäischen Hochschulinstitut CIFE. Es wird großer Wert auf die Zusammenarbeit mit den Schulen der Stadt gelegt, und man bietet Sprachkurse speziell für Kinder an.

Tragische Verbindung zwischen Nizza und Berlin

Eine besondere, leider tragische Verbindung besteht nun zwischen Nizza und Berlin, da unter den Opfern des Juli-Massakers eine Lehrerin und zwei ihrer Schülerinnen waren. Häufig fahren Klassen aus Berlin und Brandenburg auf Schulfahrten nach Nizza und Umgebung. Bleibt zu hoffen, dass diese Tradition nicht abreißt.

Als François Hollande vor ein paar Tagen zur ersten offiziellen Trauerfeier seit dem 14. Juli auf den Schlossberg von Nizza kam, war Leonie Frank-Niro vom Deutsch-Französischen Kulturzentrum anwesend. Sie hatte die Berliner Familie einer schwerverletzten Schülerin, übrigens eine muslimische Familie, beherbergt und bei Behörden und im Krankenhaus unterstützt. Dafür wurde sie mit dem deutsch-französischen Freundschaftspreis ausgezeichnet. Die von ihr betreute Familie war ebenfalls nach Nizza eingeladen worden. Präsident Hollande versprach den Angehörigen der schwerverletzten und getöteten Deutschen im persönlichen Gespräch die Hilfe des französischen Staates.

Seit jeher ist Nizza eine sehr europäische Stadt, aber fast die Hälfte der Einwohner wählt europaskeptische Parteien. Schon seit langem gibt es Initiativen für interreligiösen Dialog, deren Vertreter sogar vom Papst empfangen wurden. Sie haben jetzt mehr zu tun als je. Gerade an der blumenreichen blauen Küste am himmelblauen Meer muss das Recht auf Freiheit, Brüderlichkeit, Lebensfreude verteidigt werden. Nizza braucht Hoffnung, um den aufkeimenden Hass zu überwinden.

Manfred Flügge

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