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Amerikanische Soldaten am 25. Dezember 1967 auf dem Hügel 875 bei Dakto, wenige Tage nach einem massiven Angriff des Vietcongs.
© AFP

Roman „Der Sympathisant“: Nach der Apokalypse

Tod auf dem Rollfeld: Viet Thanh Nguyen schickt in „Der Sympathisant“ einen Doppelagenten in den Vietnamkrieg.

Das berühmte Schwarz-Weiß-Foto eines Hubschraubers, der auf dem Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon Flüchtlinge aufnimmt, ist das Symbol einer Demütigung. Die größte Militärmacht der Welt hatte in Vietnam nicht nur einen Krieg verloren, es gelang ihr nicht einmal, ihre Verbündeten zu retten. Was mit Bing Crosbys Festtagsschnulze „White Christmas“ begann, den der Army-Sender mitten im Frühling als Signal der beginnenden Evakuierung von Angehörigen und Freunden ausstrahlte, endete im Desaster. Mehr noch: in einem moralischen Bankrott.

Denn die Helikopter und Flugzeuge können am 30. April 1975 zwar mehr als 1000 Amerikaner und 6000 Vietnamesen per Helikopter oder Flugzeug aus der belagerten Stadt auf die völlig überfüllten Flugzeugträger ausfliegen, die im Südchinesischen Meer ankern. Aber tausende, zehntausende Schutzsuchende müssen zurückbleiben, während die Vietcong-Panzer bereits durch die Straßen rollen. Auf viele der Versprengten warten Schnellgerichte oder Umerziehungslager. Und Saigon, Hauptstadt der untergegangen südvietnamesischen Republik, wird von nun an den Namen des Siegers tragen: Ho-Chi-Minh-Stadt.

Beim Überleben ist sich jeder selbst der Nächste

Der Held von Viet Thanh Nguyens Roman „Der Sympathisant“ gehört zu den Davongekommenen. Als Adjutant eines Polizeigenerals zählt es zu seiner Aufgabe, die Flucht seines Vorgesetzten und dessen Familie zu organisieren. Schon bei der nächtlichen Fahrt durch das wegen einer Ausgangssperre geisterhaft menschenleere Saigon zeigen sich Spuren der Auflösung. Überall liegen Uniformen, zurückgelassen von Deserteuren. „Manche waren zu ordentlichen kleinen Haufen zurechtgelegt, mit dem Helm über dem Uniformhemd und den Stiefeln unter der Hose, als hätte eine Strahlenkanone ihre Besitzer pulverisiert.“

Am Flughafen, der unter Beschuss liegt, kommt es zu apokalyptischen Szenen. Katjuscha-Raketen explodieren, vom Sicherheitszaun aus nehmen Scharfschützen die Menschen auf dem Rollfeld ins Visier. Mit Hauen, Stoßen, Stechen gelingt es dem General und seinen Begleitern, das allerletzte Flugzeug zu erreichen, das noch abhebt. Beim Überleben ist sich jeder selbst der Nächste, es gelten die Prinzipien des Sozialdarwinismus.

Musterbeispiel eines unzuverlässigen Erzählers

In den drastischen Passagen über das untergehende Saigon erscheint das Buch wie eine Kriegsreportage, deren Metaphern dunkel funkeln. Wenn der Adjutant den Tod einer Freundin beschreibt, mischt sich der Schrecken mit Schönheit: „Auf dem Rücken ihrer Bluse breitete sich langsam ein rotes Herz aus.“ Doch bei seinem Bericht handelt es sich um ein erzwungenes Geständnis, gerichtet an den Kommandanten eines Gefangenenlagers, in dem der Held in Einzelhaft sitzt. Allerdings bleibt lange unklar, von wem er gefangen gehalten wird – und warum.

Der junge Mann, der bis zum Schluss seinen Namen nicht verrät, ist das Musterbeispiel eines unzuverlässigen Erzählers. Vertrauen darf man ihm nicht. Gleich im ersten Satz des Romans teilt er mit, „ein Spion, ein Schläfer, ein Mann mit zwei Gesichtern“ zu sein. Er hat sich mit beiden Seiten eingelassen, mit der CIA und dem Vietcong, lange Zeit ging sein Doppelspiel gut. Die Konspiration ist sein Wesenskern, alles von zwei Seiten zu betrachten, sagt er, sei wahrscheinlich „das einzige Talent, das ich habe“.

Der Autor kam in Vietnam zur Welt und floh in die USA

Die Perspektive zu wechseln, die Welt nicht bloß vom Standpunkt des Westens aus wahrzunehmen, das ist auch, was Viet Thanh Nguyen mit seinem Debütroman versucht, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Der Schriftsteller steht selbst zwischen den Kulturen. 1971 in der südvietnamesischen Provinzhauptstadt Buôn Ma Thut geboren, floh er 1975 mit seinen Eltern und einem Bruder als Boatpeople in die USA. Inzwischen lehrt er englische Literatur in Berkeley.

In den USA wird der Vietnamkrieg bis heute vor allem als nationales Trauma rezipiert, ein dreckiger Dschungelkampf, bei dem 60 000 amerikanische Soldaten starben. An sie erinnern die eingravierten Namen auf der Memorial Wall in Washington. Gleichzeitig starben etwa sechs Millionen Vietnamesen, oft durch Bomben, Napalm oder die Folgen des Entlaubungsmittels Agent Orange. Eine Tatsache, die außerhalb Asiens immer noch nicht richtig im Bewusstsein angekommen ist.

Der Held steckt in einer Zwickmühle

Tote Vietnamesen zählen weniger als tote Amerikaner. Der Waffenstillstand mit Nordvietnam, den Präsident Richard Nixon 1973 verkündete, um Südvietnam danach weiterhin mit Material und Beratern zu unterstützen, sei ein „durchschlagender Erfolg“ gewesen, lässt Nguyen seinen Erzähler sarkastisch anmerken. „Denn in den letzten beiden Jahren waren nur hundertfünfzigtausend Soldaten gestorben, zuzüglich der erforderlichen Zahl an Zivilisten.“ Die Amerikaner – befindet der Adjutant – haben ganz Vietnam zu einer Hure gemacht, gekauft mit Waffenlieferungen und Bestechungsgeldern. „Unterstützt von Superman (dem amerikanischen GI, Anm. d. A.), produzierte unser fruchtbares kleines Land keine nennenswerten Mengen an Reis, Gummi und Zinn mehr, sondern züchtete stattdessen Jahr für Jahr Rekordernten an Prostituierten heran.“

Der Titel „Der Sympathisant“ deutet die Zwickmühle an, in welcher der Held steckt: Er kann sich mit keiner Sache ganz gemein machen. Mit einem „Blutsbruder“, den er seit der Schule kennt, hat er in Saigon geschworen, für die Revolution zu kämpfen, notfalls bis zum Tod. Gleichzeitig ist er geradezu unfähig, zwischen „wir“ und „die“, Freund und Feind zu unterscheiden, eine Schwäche, die er darauf zurückführt, als Sohn eines europäischen Vaters und einer asiatischen Mutter ein „Bastard“ zu sein.

Wer ist schon unschuldig in einer blutigen Welt?

Auch als der Krieg vorbei ist, gibt es für den Agenten keinen Frieden. Im Exil, das ihn nach Los Angeles führt, soll er den General observieren. Der beginnt, frustriert von seiner neuen Rolle als Koch eines asiatischen Restaurants, eine Söldnertruppe zur Befreiung Vietnams aufzubauen. Für die Kommunisten spioniert der Erzähler, für die Milizionäre muss er einen „Verräter“ ausschalten. Skrupel braucht er nicht zu haben, versichert ihm ein Mitverschwörer: „Es ist nur Mord, wenn man weiß, dass das Opfer unschuldig ist.“ Und wer ist schon unschuldig in einer blutigen Welt?

Wie der Held, der einem Chamäleon gleicht, wechselt auch der Roman immer wieder seine Farbe: von der Kriegsreportage zum Coming-of-Age-Drama zum Spionagethriller zur Groteske. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn verfließen endgültig, als der Held als Berater für einen Kriegsfilm engagiert wird, der auf den Philippinen entsteht. Gemeint ist damit offenbar „Apocalypse Now“, Francis Ford Coppolas Kinoklassiker, in dem Vietnamesen hauptsächlich als Leichen vorkommen.

Viet Thanh Nguyen:  Der Sympathisant. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Wolfgang Müller. Karl Blessing Verlag, München 2017. 528 Seiten, 24, 99 €.

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