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Adel entpflichtet. Lady Harriet alias Martha (Anna Lucia Struck) langweilt sich mit ihrem Klassenumfeld im historischen Heckentheater.
© Uwe Hauth/Musikkultur Rheinsberg/dpa

„Martha“ in Rheinsberg: Mylady belieben zu scherzen

Bei der Kammeroper Schloss Rheinsberg haucht ein junges Ensemble Friedrich von Flotows einst weltberühmter Oper „Martha“ neues Leben ein.

Manchmal ist es wie verhext: Seit einer halben Ewigkeit wurde in Berlin und Umgebung keine Spieloper mehr gezeigt, jene deutsche Variante des heiteren Musiktheaters, die im 19. Jahrhundert parallel zur italienischen opera buffa und zur französischen opéra comique blühte. Und dann kommen gleich zwei wichtige Player auf die Idee, Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ auf die Bühne zu bringen. Georg Quander, der neue Intendant der Kammeroper Schloss Rheinsberg, hätte die Falstaff-Farce gerne im historischen Heckentheater gespielt. Doch als er erfuhr, dass Daniel Barenboim höchstpersönlich die 1849 an der Lindenoper uraufgeführten „Weiber“ zur Saisoneröffnung am 3. Oktober dirigieren wird, trat er zurück. Und wählte stattdessen Friedrich von Flotows „Martha“, ein fast zeitgleich entstandenes Stück, das sogar noch besser ins Rheinsberger Lustschloss-Ambiente passt, weil es von einem Landadligen komponiert wurde.

150 Kilometer nördlich von hier kam Freiherr von Flotow 1812 zur Welt, auf dem Rittergut Teutendorf. Eigentlich hatten die Eltern eine Diplomatenkarriere für ihn vorgesehen, doch als der Filius außergewöhnliche musikalische Begabungen zeigt, lassen sie ihn in Paris Komposition studieren. 1844 gelingt ihm mit „Alessandro Stradella“ der Durchbruch, drei Jahre später kommt „Martha“ heraus. Und macht schnell international Karriere, auch dank Flotows Eigenart, keine gesprochenen Dialoge zu verwenden, wie im Genre der Spieloper üblich, sondern Rezitative. In italienischer Übersetzung wird „Martha“ bald von Paris bis New York gespielt. Auch wenn der Ruhm nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich verblasst ist, kennen selbst viele Opernmuffel heute noch die Zeile „Martha, Martha, du entschwandest ...“, gerne mit der verballhornten Vers-Fortsetzung „... und mit dir mein Portemonnaie“.

Im Libretto beklagt der Tenor Lyonel natürlich, dass sich mit der Titelheldin auch sein ganzes Glück verflüchtigt. Und das kommt so: Lady Harriet, eine Hofdame der Königin, ist angeödet von ihrem Luxusleben. Also beschließt sie, sich zum Spaß unter dem Namen Martha als Magd auf einem Markt anzubieten. Lyonel nimmt sie unter Vertrag und verliebt sich auch gleich in die vermeintliche Dienerin. Doch als er, der Bürgerliche, sie per Heirat zu sich erheben will, lacht die Adlige nur höhnisch und macht sich aus dem Staub. Bei einer Wiederbegegnung im 3. Akt behauptet sie, Lyonel nicht zu kennen, gesteht sich dann aber doch ein, dass sie ihr Herz an ihn verloren hat. Der in seinem Stolz Gekränkte lehnt ihre Liebe aber zunächst brüsk ab.

Der Kampf der Klassen, ausgetragen mit den Mitteln des Boulevards

„Martha“ ist also eigentlich eine Klassenkampf-Geschichte, die die gesellschaftlichen Widersprüche des 19. Jahrhunderts ebenso deutlich benennt wie „Der Ring des Nibelungen“ des Flotow-Zeitgenossen Richard Wagner. Nur geschieht es hier eben nicht im mythologischen Gewande, sondern dramaturgisch leicht geschürzt, auf Boulevardkomödienart. Regisseur Holger Potocki und seinem Ausstatter Bernhard Niechotz gelingt es, für die Neuinszenierung eine heutige Optik zu finden, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten klar macht: Auf dem Tennis-Court langweilt sich die Noblesse in einer ewigen Cocktailstunde, die Arbeiter tragen Holzfällerhemden und haben stets einen Kasten Flaschenbier zur Hand. Dazwischen tummelt sich eine lustige Truppe von Bürgerkindern, die ihre Zeit kiffend im Yoga-Retreat verbringt und einen bunt bemalten VW Bully bewohnt.

Richtig viel Spaß haben die von Justus Barleben musikalisch trefflich vorbereiteten Chorsolisten dabei, zwischen den verschiedenen Kostümierungen hin und her zu wechseln und dabei stets auch ihre Körpersprache den Outfits anzupassen. Die jungen Leute können authentisch Partystimmung machen, lassen sich aber auch gerne vom Regisseur zu lebenden Bildern arrangieren. Eine differenzierte Personenführung der Solisten ist dagegen Holger Potockis Sache nicht, was aber angesichts des holzschnittartigen Librettos kaum stört. Denn die Sängerinnen und Sänger vermögen ihre Seelenregungen allein schon durch den Gesang auszudrücken.

Mit jünglingshafter Herzensreinheit verströmt sich Angelo Pollak in der berühmten Tenorarie, ganz ohne Überdruck und falsche Sentimentalität. Gar nicht so ranschmeißerisch-jovial wie üblich ist hier auch sein Nennbruder Plumkett, weil Valentin Voith die Partie mit der Textdeutlichkeit und emotionalen Feinzeichnung eines Liedsängers angeht. Sichtlich wohl in der Divenrolle fühlt sich Anna Lucia Struck, gibt glanzvoll sowohl die Lady Harriet wie auch die Unterschicht-Dienstleisterin. Ihre getreue Nancy wird durch Alice Lackners geschmeidigen Mezzosopran nobilitiert, Michal Rudzinski stellt genussvoll Lord Tristans dünkelhaften Snobismus heraus.

Blutjunge Sängerinnen und Sänger, ein Dirigent mit Gespür und eine gute Soundanlage

Mit dem Dirigenten Florian Ludwig haben die blutjungen Darstellerinnen und Darsteller aber auch großes Glück gehabt. Denn nur, wenn jemand im Orchestergraben waltet, der das von Puristen abschätzig betrachtete Genre der Spieloper wirklich liebt, können Opern wie die „Martha“ heute noch zünden. Ludwig hat ein feines Gespür für den Eklektizismus der Flotow’schen Musik, er weiß, wie man das Pariser Parfum der Partitur zur Entfaltung bringt und wie man die italienischen Einflüsse einbindet. Da kommt es auf rhythmische Präzision an und auf melodische Elastizität. Beides beherzigen auch die Mitglieder der Jungen Kammerphilharmonie Berlin, einem erst 2015 gegründeten Ensemble, das sich nicht aus Profis, sondern aus Menschen zusammensetzt, die zwar Klassik lieben, aber anderen Berufen nachgehen. Unter Florian Ludwigs Händen – und dank einer wirklich guten Soundanlage – ist an diesem ausdauernd beklatschten Premierenabend nicht weniger als die Renaissance eines vergessenen Welterfolgs zu erleben. Mal sehen, ob Daniel Barenboim im Oktober an der Berliner Staatsoper Ähnliches mit den „Lustigen Weibern von Windsor“ gelingt.

(Weitere Aufführungen in Rheinsberg am 4., 6., 7., 9., 10. und 11. August. Ab 8. August wird zudem eine Kinderfassung der „Martha“ gezeigt. Weitere Infos unter www.kammeroper-schloss-rheinsberg.de)

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