Das DSO mit Mahlers Sechster: Musik für einen Spätwestern
Keine Erlösung: Tugan Sokhiev und das Deutsche Symphonie Orchester Berlin wuchten Mahlers Sechste auf die Bühne der Philharmonie.
Es ist schon ein unverschämtes Werk, die Sechste von Gustav Mahler. Diese Sinfonie in Spielfilmlänge, die energico anfängt, um sich immer wieder zu steigern und dem Hörer stramme Marschrouten durch unwegsames Gelände abzuverlangen. Und trotz all der schrillen Blechbläser-Einwürfe und Hammerschläge im Schlusssatz verspricht jeder der Mahlerschen Überschwangsintervalle samt Geigensüße: Das wird schon. Irgendwann wird das höllenfinstere a-Moll der Kontrabässe, Posaunen und der Basstuba einem gleißenden A-Dur weichen.
Alles wird gut? Von wegen. Eine halbe Stunde lang wühlt das finale Allegro der 1903/04 entstandenen Sechsten, wieder energico, in den Eingeweiden des symphonischen Klangkörpers, setzt eine monströse Gefühlsmaschinerie in Gang, bäumt sich auf mit voller Kraft und noch mehr Verzweiflung – aber nein. Die Sechste, die „Tragische“, sie ist eine einzige gewaltige Vergeblichkeit, ein Selbstzerstörungsakt der Spätromantik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Ende schafft es nicht einmal mehr das von Mahler vielfach gesetzte Dur-Moll-Vexiermotiv ins Helle. Es bleibt nur die Mollterz als letzte Zuckung in Zeitlupe, gefolgt von grausam allerletzten Tutti-Hieben als Verstärker der Pauke. Dem Paukisten des Deutschen Symphonie Orchesters fällt dabei glatt der Filzkopf eines Schlägels ab, kein Wunder: Ohne Blessuren ist dieser Schluss nicht zu haben.
Tugan Sokhiev interessiert sich für die Mechanik des Zerfallsprozesses
DSO-Chef Tugan Sokhiev betont gleich mit den ersten martialischen Takten das Unerbittliche der Sechsten, das heillos Diesseitige. Die Klangexperimente der eingestreuten irrwitzigen Herdenglocken- und Harfengespinste, die irrealen hochalpinen Inseln, in der die Luft dünn ist und die Wahrnehmung hypersensibel, kurz: Das Visionäre der Symphonie interessiert ihn weniger als die Mechanik des Zerfallsprozesses, der Moment, in dem das Sentiment im Andante (Sokhiev platziert es an zweiter Stelle) oder der Volkston im Scherzo-Trio in die Abstraktion umschlagen oder in die eigene Karikatur. Bei aller Kompaktheit und Lautstärke bleibt Sokhievs Mahler gut durchhörbar; nie werden die Holzbläser oder Paolo Mendes’ vorzügliches Horn vom Streicherkollektiv untergepflügt. Und doch kommt er der Radikalität, dem letztlich Unbegreiflichen der Sechsten nicht bei, mit Ausnahme der letzten Takte. Die Sechste, ein Spätwestern-Soundtrack, nicht weniger, aber auch nicht mehr an diesem Abend in der Philharmonie. Lange, intensive Stille, erst dann der Applaus.
Christiane Peitz