DSO-Chefdirigent Tugan Sokhiev: „Jeden meiner Fehler hört man sofort“
Was macht ein Dirigent denn nun eigentlich bei der Arbeit? Im Interview löst Tugan Sokhiev, seit Herbst 2012 Musikchef des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, das große Rätsel.
Maestro Sokhiev, Sie stammen aus Russland, hatten Ihr erstes Engagement in Wales, sind seit 2008 Musikchef in Toulouse und leiten seit Herbst 2012 das Deutsche Symphonie-Orchester. In welcher Sprache proben Sie mit Ihren Berliner Musikern?
Auf Englisch, besser gesagt in einem Mix aus Englisch, ein wenig Deutsch und italienischen Musik-Fachbegriffen. In allererster Linie aber versuche ich, mit meinen Händen zu reden. Dirigenten können in den Proben Informationen zum Stück geben, aber beim Auftritt besteht keine Möglichkeit mehr dazu. Darum müssen wir uns die Fähigkeit erarbeiten, im Konzert nonverbal zu kommunizieren.
In der Tat hört man oft von Musikern, dass sie jene Dirigenten gar nicht mögen, die sich selber gerne sprechen hören.
Das Orchester kommt ja nicht zusammen, um einer musikwissenschaftlichen Vorlesung beizuwohnen. Sie wollen arbeiten – also spielen. Ich erwähne geschichtliche Fakten nur, um den gedanklichen Hintergrund, die Atmosphäre klar werden zu lassen, die das jeweilige Stück prägt oder die private Situation, in der sich der Komponist befand, als er das Werk schrieb. Am Ende aber hilft das alles nichts, wenn es darum geht, dass die Musiker perfekt zusammenspielen.
Sie waren einer der letzten Schüler des legendären Maestromachers Ilja Musin in St. Petersburg. Hat er Ihnen diese Einstellung vermittelt?
Er sagte immer: Dirigenten müssen sich mit Gesten ausdrücken können, nicht mit Worten. Das nennt man Technik.
Diese Technik vermitteln Sie über die linke Hand, während die rechte eher dafür genutzt wird, emotionale Akzente zu setzen?
Nein, nein, das wäre viel zu schematisch. Die Technik, von der ich spreche, funktioniert nur, wenn der ganze Körper beteiligt ist. Manchmal ist es ein Blick, mit dem Sie einer Instrumentengruppe den Einsatz geben. Brauchen die 1. Geigen, die links von Ihnen sitzen, eine Hilfestellung, ist dafür natürlich die linke Hand zuständig. Dann beschreibt die rechte den großen musikalischen Bogen. Wenn Sie sich das Instrumentarium einmal erworben haben, spüren Sie intuitiv, was zu tun ist. Genau wie ein Maler, der weiß, wann er welche Pinselstärke braucht, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.
Notieren Sie in der Partitur, welche Bewegungen Sie beim Konzert machen werden?
Als ich Student war, habe ich das tatsächlich gemacht. Dann aber stellte ich fest, dass ich so nur die Partitur mit anderen Mitteln nachgemalt hatte. Durch die große Menge an Eintragungen war mein Blick immer auf die Noten fixiert, ich hatte gar keine Augen mehr für die Musiker. Das ist, als würden Sie ein Buch lesen und dabei ununterbrochen Anmerkungen an den Rand schreiben. Das entfremdet Sie von der Geschichte, weil Sie sich nur noch auf Ihre Kommentare konzentrieren. Also habe ich meine Methode umgestellt. Heute lerne ich die Partitur auf eine andere Weise. Wenn beispielsweise in einer Passage ein sehr wichtiger Einsatz der Klarinette vorkommt, muss ich mir im Kopf darüber klar werden, wie wichtig dieses Solo ist. Habe ich es gedanklich erfasst, muss ich es nicht zusätzlich noch notieren. Statt mich in die Partitur hineinzuschreiben, muss ich die Partitur in mich einschreiben.
Wenn ich als Journalist ein Buch rezensiere, unterstreiche ich viel und mache mir Randnotizen. Weil ich ja den Inhalt anschließend für den Leser zusammenfassen und bewerten soll. Vom Dirigenten erwartet man genau das Gegenteil: Er soll kein Resümee liefern, sondern den Hörern die Vielfalt der Details erschließen.
Ich bewerte ja Beethoven nicht wie ein Kritiker, ich nehme das Werk und versuche, es in seiner ganzen Komplexität dem Publikum zu vermitteln. Wir Musiker sind ein Medium, durch das hindurch die geschriebenen Noten ans Ohr der Zuhörer gelangen können.
Wie aber funktioniert der Prozess, wenn Ihre Arbeit mit der Partitur abgeschlossen ist? Wie vermitteln Sie in den Proben Ihre Erkenntnisse an die Musiker? Testen Sie vorher vor dem Spiegel bestimmte Bewegungsabläufe auf ihre Effektivität hin?
Nein, die Bewegungen kommen automatisch, wenn ich auf dem Podium stehe. Darüber muss ich gar nicht nachdenken. Normalerweise ist es der notierte musikalische Impuls, der die Geste auslöst. Das kommt alles vom Kopf her. Wobei die Bewegungen für eine Partiturpassage während der Proben durchaus variieren können. Es gibt keine vorgefertigte Bewegung, alles kommt spontan. Das klappt natürlich nur, wenn man sich zuvor durch technisches Können diese Freiheit erworben hat. Das ist wie bei Geigern. Ohne technisches Rüstzeug können sie auch kein Gefühl ausdrücken.
Schauen Sie sich zur Kontrolle manchmal Videos der Konzerte an, um zu sehen, wo Sie gestisch vielleicht zu viel gemacht haben?
Als Dirigierstudenten in St. Petersburg stand uns ein eigenes Orchester zur Verfügung, mit dem wir jeden Vormittag arbeiten konnten. Hinterher haben wir Aufzeichnungen davon angeschaut, um zu sehen, wo unsere Fehler lagen. Wenn Sie dann öffentliche Konzerte dirigieren, brauchen Sie das nicht mehr. Mache ich einen Fehler, hört man das sofort im Orchester. Dann weiß ich: Beim nächsten Auftritt mit diesem Stück muss ich es gestisch anders umsetzen.
Manche Dirigenten stehen eher steif auf dem Podium, während andere wie wild auf und ab hüpfen. Was ist Ihr Ideal?
Wenn die Bewegungen zu akrobatisch werden, ist das Publikum abgelenkt, weil alle nur noch auf den Derwisch da vorne starren. Die Leute vom aufmerksamen Zuhören abzuhalten, kann aber nicht im Sinne des Interpreten sein. Ich finde, im Konzert sollte der Dirigent möglichst unsichtbar sein. Denn was macht er? Er hilft dem Orchester, die musikalische Botschaft zu vermitteln. Dafür muss er nicht das optische Zentrum des Abends sein.
Sie haben einmal gesagt: Ab und an ist es gut, das Orchester in Ruhe zu lassen.
Die allerwichtigste Fähigkeit des Dirigenten besteht in meinen Augen darin, dass er weiß, wann die Musiker ihn brauchen, wann er helfend eingreifen muss. Bei heiklen Übergängen beispielsweise, oder wenn sich abrupt das Tempo ändert. Dann gibt es wiederum Momente, da spielt ein Orchester besser, wenn ich mich als Dirigent zurückhalte. Das ist mit den Anforderungen an einen Arzt vergleichbar: In bestimmten Fällen ist es das Beste, den Körper nicht durch Eingriffe in seiner natürlichen Funktionsweise zu stören. Andererseits muss er verstehen, wann der Körper Medizin braucht. Um das zu lernen, bedarf es allerdings vieler Jahre der Erfahrung.
Am Anfang will man unbedingt alles richtig machen und macht darum zu viel?
Ja, dann aber stellen Sie im Idealfall fest, dass Sie auf keinen Fall ein Kontrollfreak sein wollen. Gute Geschäftsführer von großen Firmen trommeln ihre Mitarbeiter auch nicht ständig zusammen, um ihnen Anweisungen zu geben. Sie führen durch Vertrauen. Genauso spielt bei der Zusammenarbeit von Dirigent und Orchester das gegenseitige Vertrauen eine Schlüsselrolle.
Fällt es einem Dirigenten leichter, einem Spitzenorchester zu vertrauen als einem weniger guten?
Bei einem Jugendorchester muss man vielleicht häufiger helfend eingreifen, aber sobald es sich um Profis handelt, verdienen alle dasselbe Vertrauen. Denn sie haben wahrscheinlich die Kernwerke des Repertoires 20 mal häufiger gespielt, als jeder Dirigent es in seinem Leben schaffen kann. Sie haben einen Instinkt, eine Mentalität, so wie jede Gruppe, die zusammengewachsen ist. Als ich beispielsweise mit dem DSO Dvoráks Siebte geprobt habe, genügte es, dass ich ihnen sagte, diese Sinfonie sei stark von Brahms inspiriert, und schon wussten die Musiker, in welche Richtung es gehen würde. Das ist wie bei einem Vogelschwarm: Wie schaffen es die Tiere, alle in dieselbe Richtung zu fliegen? Dieses Wunder gibt es auch bei Orchestern.
Das Gespräch führte Frederik Hanssen.
Tugan Sokhiev, Jahrgang 1977, stammt aus Ossetien, einer südrussischen Republik in der Kaukasusregion zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Er studierte in St. Petersburg am Konservatorium bei Ilja Musin und erhielt seine erste Anstellung 2003 als Musikchef der Walsh National Opera, die er jedoch nach einer Saison aufgab, da er sich noch nicht reif für den Posten fühlte.
Erfolgreicher verlief seine Beziehung zum Orchestre National du Capitole de Toulouse, das er seit 2005 als Gast dirigierte. 2008 machten ihn die Franzosen zu ihrem Chef.
Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin leitete Sokhiev erstmals 2003 im Rahmen von Debüt im DRadio. Im September 2012 trat er sein Amt als Chefdirigent des DSO an. Sein Vertrag läuft zunächst vier Jahre.
Am 19. Dezember spielt Tugan Sokhiev mit dem DSO in der Philharmonie Werke von Berlioz, Tanejew und Glinka.