Berliner Philharmoniker: Mordslärm und Liebesleid
Die Berliner Philharmoniker spielen Schostakowitsch unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin, Violinistin Lisa Batiashvili begeistert mit Bartok.
Gerade haben sie ihn in New York zum Nachfolger von James Levine ernannt: Ab 2020 wird Yannick Nézet-Séguin die Metropolitan Opera leiten. Der 41-jährige Frankokanadier ist in der Tat ein genuiner Musiktheatermann. Wie virtuos er Vokales mit Instrumentalem zu koordinieren versteht, beweist er jetzt auch in der Philharmonie bei Schostakowitschs 13. Sinfonie. Fünf Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko inspirierten den Komponisten 1962 zu einem monumentalen Werk für Chor, Solist und großes Orchester. Am Beginn steht eine Anklage: Es geht um Antisemitismus in der Sowjetunion und die Schlucht von Babi Jar, wo die deutsche Wehrmacht 1941 auf brutalste Weise 33 000 Juden hinrichtete – unterstützt von ukrainischen Kollaborateuren. Nach dem bewegenden Poem allerdings folgt nur noch sozialistische Durchschnittsprosa – mit dem Effekt, dass auch Schostakowitschs Musik deutlich plakativer ausfällt als gewohnt, weitgehend auf Doppeldeutigkeiten und raffinierte Zitat-Technik verzichtet.
Nézet-Séguins beherzt theatralischer Zugriff ist da ein probates Mittel, um dennoch für Spannung und Atmosphäre zu sorgen. Knallige Klangfarben fordert er den Berliner Philharmonikern ab, übergroße Emotionen, extreme Lautstärkeschwankungen. Mit bebendem Ganzkörpereinsatz folgt ihm der hünenhafte Bass Mikhail Petrenko, und die Herren des Rundfunkchores bilden eine Wand aus Klang.
Wie sehr der Dirigent von der amerikanischen Orchestertradition geprägt ist, die sich am Brillanten berauscht, wird hier deutlich. Die Philharmoniker können mithalten – tief unter die Oberfläche aber dringt diese Interpretation nicht. Sie bleibt deskriptiv, als handele es sich um schlichte Tonmalerei-Musik wie in Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“.
Deutlich intimer gelingt da Béla Bartóks 1. Violinkonzert, in dem der Komponist seine unglückliche Liebe zur Geigerin Stefi Geyer verarbeitete. Ganz ohne Worte erklärt Yannick Nézet-Séguin zusammen mit seiner famosen Solistin Lisa Bathiashvili, warum aus dieser Liaison nichts werden konnte. Im ersten Satz spricht Bartók, sehr ernsthaft und geradezu verbissen verliebt. Ihm geht es ums Für-immer-und-ewig. Sie aber will das Leben leicht nehmen – allegro giocoso ist der zweite Satz überschrieben –, will glänzen, flirten, eben die 1. Geige spielen. Armer Béla: Wenn das Fräulein Geyer nur halb so faszinierend war, wie Lisa Batiashvili es ist, können wir deinen Schmerz nachfühlen. Orchester und Publikum jedenfalls sind ihr am Mittwoch im Nu verfallen.