Filmfestival in Cannes: Mit „Parasite“ gewinnt Genrekino aus Südkorea die Goldene Palme
Die alte Garde überzeugt in Cannes, und Festivalleiter Frémaux stemmt sich gegen die Krise des Kinos. Beim Siegerfilm geht es um Verteilungskampf von unten.
Selten waren sich in Cannes Publikum, Kritik und Jury so einig wie in diesem Jahr. Mit der Goldenen Palme für Bong Joon-hos exzessive Gesellschaftssatire „Parasite“ zeichnet die Jury um den mexikanischen Regisseur Alejandro González Iñárritu am Samstagabend den Film aus, der sogar Quentin Tarantinos heiß antizipiertes Starvehikel „Once Upon a Time in Hollywood“ mit minutenlangen Standing Ovations im Anschluss an die Premierenvorstellung in den Schatten stellte. Der Preis ist eine populistische Entscheidung, keine künstlerisch gewagte.
Vor zwei Jahren wurde der koreanische Regisseur mit seiner Science-Fiction-Satire „Okja“ um ein genmanipuliertes Superschwein von der Jury um Pedro Almodóvar noch ignoriert, produziert hatte den Film Netflix. Mit der Auszeichnung stach Bong nun den 69-jährigen Almodóvar aus, der mit seinem autobiografisch gefärbten Drama „Leid und Herrlichkeit“ ebenfalls die Herzen von Publikum und Kritik erobert hatte. Mit der Goldenen Palme für „Parasite“ zollte die Jury auch dem diesjährigen Trend zum Genrekino Tribut. Bong gehört zu den interessantesten Genrefilmern im internationalen Autorenkino, der den Monsterfilm („The Host“) und die Science Fiction („Snowpiercer“) immer wieder als Vorlage für gesellschaftliche Allegorien benutzt.
„Parasite“ handelt von einer Familie aus ärmlichen Verhältnissen (um in ihrem Kellerloch das Wifi-Signal der Nachbarn zu finden, müssen die Kinder abenteuerliche akrobatische Verrenkung unternehmen), die sich in der Luxusvilla eines reichen Entrepreneurs und dessen Familie einnistet, indem die Mitglieder das Dienstpersonal mit allerhand Tricks aus dem Haus ekeln und nach und nach selbst den Job des Chauffeurs, der Haushälterin, des Nachhilfelehrers der Teenagertochter etc. übernehmen. Natürlich ohne die Verwandtschaftsverhältnisse offenzulegen.
Der Verteilungskampf von unten spitzt sich zu, als die Parasitenfamilie im Keller noch einen heimlichen Untermieter entdeckt. Das Recht des Stärkeren führt zu immer absurderen Gewalteskalationen, die das Cannes-Publikum zu spontanen Beifallsbekundungen veranlasste. „Parasite“ ist neben „Leid und Herrlichkeit“ der Konsensfilm 2019, über den Stand der Filmkunst verrät er allerdings nur wenig.
Fluchttragödie als poetische Geistergeschichte
Diese Vorgabe erfüllt der Große Preis der Jury, der an „Atlantique“ von Mati Diop geht, dafür umso mehr. Die französische Regisseurin zeigt mit ihrem Debüt, dass das Kino nicht immer nach Europa blicken muss, um von den Folgen der afrikanischen Fluchttragödie im Mittelmeer zu erzählen. In „Atlantique“ ist die Abwesenheit der Männer Auslöser für eine poetische Geistergeschichte, in der die Seelen der Verstorbenen in Gestalt von Frauen zurückkehren, um von ihren Ausbeutern ihren verdienten Lohn einzufordern.
Die junge Ada, gespielt von Festivalentdeckung Mame Bineta Sane, wartet derweil mit gebrochenem Herzen auf Souleiman, der in der Hoffnung auf ein besseres Leben von Dakar nach Europa aufgebrochen ist. Diop, die Nichte der senegalesischen Regielegende Djibril Diop Mambéty, erweist sich als gelehrige Schülerin ihrer Mentorin Claire Denis, eine der wenigen französischen Filmemacherinnen, die sich ernsthaft mit der Kolonialgeschichte des Landes auseinandergesetzt hat. Damit geht 2019 wenigstens der zweitwichtigste Preis an eine Frau, noch dazu an die erste schwarze Regisseurin im Wettbewerb von Cannes.
An der Croisette war diesem Jahr die Identitätskrise des Kinos deutlich zu spüren. Demonstrativ hatte sich Festivalleiter Thierry Frémaux zum Verteidiger der siebten Kunst aufgeschwungen, gegen den drohenden Kulturverfall: sinkende Besucherzahlen und den Einfluss der Streamingdienste. Und der Jahrgang gibt Anlass zur Hoffnung, dass sich Frémaux mit seinem Projekt, der Rettung des Kinos, auf einem guten Weg befindet. Auch ohne Staraufgebote und Netflix.
Stammgäste und Regie-Nachwuchs in der Palmen-Konkurrenz
Im zweiten aufeinanderfolgenden Jahr schöpfte das Kino aus sich selbst heraus noch genug Kraft, mit einem ausgesuchten Line-up aus Stammgästen (die Dardenne-Brüder gewannen mit dem verzagten „Young Ahmed“ um einen 13-jährigen Moslem, der sich radikalisiert, den Regiepreis, Terrence Malick ging mit seinem ungleich ambitionierterem Weltkriegsdrama „The Hidden Life“ leer aus) sowie bereits etablierten, aber jüngeren Regisseurinnen und Regisseuren wie Kleber Mendonça Filho (Preis der Jury für „Bacurau“) und Céline Sciamma. Ihre Auszeichnung mit der Drehbuch-Palme man nur als Trostpreis bezeichnen kann, Sciamma galt vielen zu Recht als Favoritin auf die Goldene Palme.
„Portrait of a Lady on Fire“ ist ihr bislang schönster Film. In einem Jahr, in dem die Argumente pro/kontra einer Quote für Filmemacherinnen seitens der Veranstalter wieder die absurdesten Blüten trieben, demonstriert die Französin auf bravouröse Weise, wie nötig das Kino mehr Filme mit einer weiblichen Sichtweise hat. Nach drei kraftvollen Jugenddramen findet Sciamma mit ihrer historischen Liebesgeschichte um die junge Marianne (Noémie Merlant), die sich über die Malerei ein Bild von ihrer Angebeteten (Adèle Haenel) macht, zu einem ungewohnt klassizistischen Ton. Dass der Film, selbst in seinen Liebesszenen, ganz dem Duktus des späten 18. Jahrhunderts verhaftet bleibt, macht dabei viel von seiner subtilen Radikalität aus.
Alle vier Regisseurinnen im Wettbewerb überzeugen
Die überraschendste Erkenntnis des diesjährigen Wettbewerbs ist wohl, dass die großen Namen nicht bloß wieder angetreten waren, um das Programm zu zieren. (In der jüngeren Vergangenheit ein typisches Cannes-Problem) Stellvertretend hierfür steht auch Almodóvars Film, für den Hauptdarsteller Antonio Banderas ausgezeichnet wurde. Mit „Leid und Herrlichkeit“ blickt der 69-Jährige ohne Larmoyanz und überzogene Melodramatik, dafür mit schonungsloser Offenheit, auf sein Leben und seine Karriere zurück. Banderas setzt als gebrechliches Alter Ego des Regisseurs seinem Freund ein Denkmal. Die Tränen des Stars nach der Premiere sprachen auch Bände über die Liebe, die Almodóvar an der Croisette widerfährt.
Mit vier Regisseurinnen im Wettbewerb hat Cannes eine neue Bestmarke hingelegt. Dass Jessica Hausner und Justine Triet mit ihren Filmen ebenfalls überzeugten, sollte dem Festival zukünftig Ansporn genug sein, auf die guten Absichten weitere Taten folgen zu lassen. Hausner konnte mit der dystopischen Science-Fiction-Parabel „Little Joe“ sogar einen Teilerfolg verbuchen. Emily Beecham erhielt für ihre Rolle einer stoischen Biologie, die eine Blume züchtet, deren Samen wie ein Antidepressiva auf Menschen wirken, den Preis für die beste Darstellerin.
Gleich zwei Auszeichnungen gingen in diesem Jahr nach Brasilien, neben Kleber Mendonças Jury-Preis für „Bacurau“ auch der Hauptpreis der Reihe „Un Certain Regard“ für das Melodram „The Invisible Life of Euridice Gusmao“ des in Berlin lebenden Karim Ainouz.
Man muss die Verteilung der Preise in diesem Jahr wohl salomonisch nennen. Unter der Jury-Leitung von Hollywood-Größen hat es in der Vergangenheit auch immer wieder kuriose Entscheidungen gegeben, etwa 2015 unter den Coens für „Dämonen und Wunder“. Dass Festivalleiter und Jury-Präsidenten nicht per se dieselbe Idee vom Kino haben, hat man in Cannes schon öfter lernen können. Aber vielleicht muss das Kino ja manchmal auch vor denen gerettet werden, die es eigentlich nur gut mit ihm meinen.