"I love you, but I've chosen Entdramatisierung" von René Pollesch an der Volksbühne: Mit Mary Johanna im Container
Schimpfen als soziale Praxis: Der neue Pollesch-Abend „I love you, but ...“ an der Volksbühne wirft mit kleiner Diskursmünze um sich.
Mit formvollendetem Augenaufschlag stellt Kathrin Angerer in der Berliner Volksbühne die Frage der Stunde: „Wie könnten wir dazu beitragen, Spannungen abzubauen und den sozialen Frieden wiederherzustellen?“ Und natürlich flötet sie ihren Kollegen Inga Busch, Trystan Pütter und Samuel Schneider in ihrem großartig gespielten Naivitätstremolo auch gleich die perfekte Antwort entgegen: „Wir könnten uns beleidigen!“
Super Vorschlag! Das zentrale Gedankenspiel des neuen René-Pollesch- Abends mit dem schönen Titel „I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung“ besteht also darin, statt politisch korrekter Nettigkeiten die „soziale Praxis“ der gegenseitigen Anranzung als ultimative Konfliktentschärferin in Stellung zu bringen. Schließlich habe schon im 13. Jahrhundert ein westafrikanischer Kaiser seinen verfeindeten Stammesführern befohlen, behauptet Trystan Pütter, einander so lange zu beschimpfen, bis sie sich krümmen vor Lachen, und dann zu überlegen, ob sie wirklich kämpfen wollen. Auf diese Weise sei „das erste afrikanische Großreich in Westafrika“ entstanden. (Kleine Grußadresse also auch an die Causa Böhmermann und Co., wovon freilich, gottlob, nichts und niemand explizit erwähnt wird.)
Pollesch hat ja schon immer übers tagesaktuelle Kleinklein hinausgedacht. Und so wird der aus dem Kaiserspruch abgeleitete Schlachtruf des Abends – „Die Tragik banalisieren und zur Komödie verwandeln“ – auch diesmal performativ gnadenlos eingelöst; und zwar auf allen erdenklichen Ebenen. Ihre vollendetste Banalisierungsstufe erklimmt die Inszenierung dabei zweifellos im Rückgriff auf Tamra Davis’ Neunziger-Jahre- Film „Half Baked“. Der wurde auf dem deutschsprachigen Markt mit dem Titel- Zusatz „Völlig high und durchgeknallt“ vertrieben – was die Sache ziemlich korrekt auf den Punkt bringt. Es geht um einen florierenden Marihuana-Handel, der dem Pollesch-Personal nicht nur entsprechende Kalauer-Steilvorlagen liefert („Wie war noch mal Ihr Name?“ – „Mary Johanna.“ – „Marihuana?“), sondern ihm auch ermöglicht, einen Großteil des Abends schön Dope-entschleunigt in einem Container abzuhängen.
Trystan Pütter spricht mit der Dringlichkeit eines altgriechischen Tragödien-Boten in die Kamera
Und das ist wirklich ziemlich lustig, weil Pollesch einmal mehr ein Schauspieler-Quartett versammelt hat, das die größten Banalitäten tatsächlich zur scheinbar weltumspannendsten Ereignishaftigkeit hochjazzen kann (und vor allem eben umgekehrt). Übrigens gehört die Beantwortung der Frage „Was ist ein Ereignis?“ – entnommen einem gleichnamigen Slavoj-Žižek-Text – zu den zentralen Herausforderungen des Abends. Trystan Pütter nimmt sich für seinen entsprechenden Exkurs gefühlte 15 Minuten Zeit, indem er – jaja, „Völlig high und durchgeknallt“ – mit der Dringlichkeit eines altgriechischen Tragödien-Boten Speisenwünsche in eine Kamera spricht: „Schokocreme. Paprikachips. Minisalamis. Grahamcrackers. Marshmallows. Zwiebelringe ...“ Die ebenfalls wie immer tolle Inga Busch gibt unterdessen hochgradig anschlussfähige Sätze zu Protokoll („Söhnen, die die besten Freunde ihrer Väter sind, könnt’ ich sofort eine reinschlagen“), während der junge und bis dato vor allem als Filmschauspieler in Erscheinung getretene Samuel Schneider, der sich erstklassig einfügt in dieses Volksbühnen-Team, die Kollegen gern mal an den Ausgangspunkt des Abends erinnert: „Das ist zu harmlos hier! Bevor wir uns weiter so kraftlos schlagen, sollten wir zu dieser sozialen Praxis zurückkommen, dass wir uns aufs Bitterste beschimpfen!“
Solche gelegentlichen, nun ja, Strukturierungsversuche sind durchaus hilfreich an diesem Abend, der gar nicht erst die Illusion weckt, es gäbe irgendeinen roten Faden jenseits von – genau: „Völlig high und durchgeknallt“. Und es ist – gemessen an anderen Pollesch-Abenden – auch nicht etwa so, dass hier mit wahnsinnig großer Diskursmünze um sich geworfen würde. Die Sprünge von Marihuana zum „Ereignis“ und zurück – gern mit einem Umweg über Gunther Weidenhaus’ Buch „Soziale Raumzeit“ oder ein paar eingestreute Grundsätzlichkeiten zu Pasolini und den Film noir – geben sich keine übertriebene Mühe, irgendwelche Sinneinheiten zu behaupten. Müssen sie auch nicht, denn unterhaltsam ist das Ganze allemal. Zumal die Crew – abgefilmt von der obligatorischen Livekamera – den größten Teil des Abends in einem der drei Original-Container zubringt, mit denen die Volksbühne vor Urzeiten als „Rollende Road-Schau“ ins Umland aufgebrochen war. So schlauchförmig, wie diese Wagen jetzt im entkernten, asphaltierten Bühnenraum der Volksbühne angeordnet sind, erinnern sie auch ein bisschen an Polleschs legendäre Prater-Trilogie, die kurz nach der Jahrtausendwende die Castorfbühnen-Dependance auf der Kastanienallee rockte. Da wurde ausgiebig durch eine entsprechende Zimmerflucht geturnt. Nostalgisch wirkt daran übrigens nichts. Sondern lediglich: „Half Baked – Völlig high und durchgeknallt“.
Wieder am 3., 16. und 27. Juni
Christine Wahl